Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
ihnen hervor, obschon vieles in Vergessenheit geraten ist, selbst unter ihnen.« Cadvan legte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich denke, Hem hat eine beschwerliche Geschichte hinter sich und mehr gelitten, als es ein Kind je sollte. Und ich fürchte, davon sind solche Narben zurückgeblieben, dass es schwierig werden wird, Vertrauen zwischen uns aufzubauen, sofern es überhaupt möglich ist. Das war schon mit dir ein hartes Stück Arbeit, Maerad.« Er lächelte sie an.
Maerad lächelte zurück, und die Kränkung ob ihres Streits, die sie immer noch in sich getragen hatte, verpuffte. Mit einem Schlag fühlte sie sich unbeschwerter als seit Tagen, seit sie die Valverras betreten hatten.
»Ich weiß, dass er lügt«, verriet sie. »Trotzdem mag ich ihn. Er hat etwas an sich … Es ist fast so, als würde ich ihn kennen … und er tut mir leid. Er ist noch so jung und doch so verloren.«
»Ja«, bestätigte Cadvan und dachte insgeheim, dass Hem sich gar nicht so sehr von Maerad unterschied. »Aber trotz allem trägt er ein Dunkel in sich, das wir im Auge behalten sollten. Ich möchte wissen, was er mit den Untoten zu schaffen hatte. Ich glaube, was sie angeht, war er nicht ehrlich zu uns, und ich fürchte, er könnte sie auf unsere Fährte lenken. Oder dass sie durch die Jagd auf ihn auf uns stoßen könnten.«
»Aber er ist doch auch auf der Flucht vor ihnen«, gab Maerad zu bedenken. »Ja, nur warum?«, hielt Cadvan dem entgegen. »Ich bin zutiefst besorgt, Maerad. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auf irgendeine Weise Gefahr für uns verheißt.«
Ein wenig später weckten sie Hem und bereiteten eine karge Mahlzeit aus Dörrfleisch und Obst zu. Cadvan hatte aus dem Dorf etwas frisches Brot mitgebracht, das eine willkommene Abwechslung darstellte. Hungrig dachte Maerad an die Speisen zurück, die sie in Inneil und Rachida genossen hatten. Abermals wünschte sie, dass sie in einer Herberge übernachten und sich etwas Behaglichkeit gönnen könnten.
Cadvan weihte Hem in ihre Pläne ein, nachts zu reisen. Der Junge nickte nur, es schien ihm gleichgültig zu sein. Sobald die Sonne hinter den Horizont glitt, verstauten sie ihre Bündel und bestiegen die Pferde, wobei Cadvan den Knaben wieder vor sich setzte. Sie fühlten sich durch die Rast alle erfrischt, nur Hem hatte nach wie vor mit seiner Erkältung zu kämpfen und wischte sich fortwährend die Nase am Ärmel ab, bis Cadvan ihm ein großes Taschentuch gab, das er stattdessen verwenden konnte. Es war ein wunderbarer Sommerabend, den keine Spur des Unwetters der vergangenen Nacht trübte. Die Luft war mild und angenehm, und über ihnen funkelten die Sterne. Es waren dieselben Sterne, nach denen Maerad so oft in einsamen Nächten in Gilmans Feste Ausschau gehalten hatte, wenn sie auf dem schäbigen Küchenhof die Leier gespielt hatte, um sich zu trösten; doch nun, da ihr der Wind der Freiheit das Haar zerzauste, stellten sie sich ihr gänzlich anders dar! So gehetzt und heimatlos sie sein mochte, wenn Maerad an Gilmans Feste zurückdachte, konnte sie sich nie der Erregung erwehren, die darin lag, keine Sklavin mehr zu sein; es erschien ihr immer noch wie ein Wunder.
Gemächlich trabten sie durch das verschlafene Dorf, vorbei an Feldern und abgeschiedenen Häusern. Im Schein der Sterne wirkte die Landschaft friedlich. Hinter zahlreichen geschlossenen Fensterläden lugte Licht hervor, auf den Weiden grasten Kühe und Pferde, Hunde kläfften, als sie die Tore passierten. Vom Boden stiegen die Gerüche von Gras und Blumen auf, entfesselt durch die kühle Nachtluft und den einsetzenden Tau. Maerad entspannte sich im ebenmäßigen Takt ihres Ritts. So reisten sie drei Tage lang und legten dabei rund neunzig Meilen zurück. Cadvan zeigte sich zufrieden über ihr Vorankommen. »Wir nähern uns dem Ende unserer Reise«, verkündete er. »Bald gelangen wir ins Tal von Norloch, dort werden wir sicherer sein. Das Licht ist dort stark, und Untote wagen nicht, sich offen auf der Straße zu zeigen.«
Maerad spürte jene Mischung aus Furcht und Erregung, die sich jedes Mal in ihr rührte, wenn sie an Norloch dachte. Würde sie in jener erhabenen Feste des Lichts für unzureichend befunden werden? Und sollten die Barden von Norloch zustimmen, sie zu einer vollwertigen Bardin zu machen, würde sie dann wieder allein auf der Welt sein? Unter ihren Fragen schwelte eine tief sitzende Angst, die sie kaum zu beschreiben vermochte.
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