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Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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abgelenkt waren. Besonders Maerad wollte nicht, dass er flüchtete; mittlerweile hatte sie das Gefühl beschlichen, dass Hem irgendwie zu ihr gehörte. So wie Silvia die schmerzliche Lücke füllte, das der Tod ihrer Mutter hinterlassen hatte, ersetzte Hem ihren toten Bruder Cai. Cadvan bemitleidete den Jungen, der stets so still mit um sich geschlagenen Armen dasaß, den Kopf hängen ließ und unergründlichen Gedanken oder Erinnerungen nachhing. Wenn er Hem ansprach, tat er es ausnahmslos mit sanfter Stimme. Doch trotz allem erfuhr er nichts über Hems Kindheit, und im Morgengrauen war er stets zu müde, um nachzubohren. Cadvan gab eine forsche Gangart vor, weil er Norloch unbedingt so rasch wie möglich erreichen wollte. Wenn Maerad sich schlafen legte, nahm sie den Jungen immer in die Arme. Hem erhob nie Einwände dagegen und schien weniger rastlos zu sein, wenn er sich an Maerad schmiegte, als bannte ihre Berührung seine Albträume. Wenn Cadvan Wache hielt, grübelte er oft über seine beiden Mündel nach: das hellhäutige Mädchen und den dunklen Jungen, deren schwarzes Haar sich im Gras verwob, zwei Heimatlose des Lichts, zusammengeführt von einem Schicksal, das zu erahnen unmöglich war. Obwohl sie grundverschieden wirkten, hatten Maerad und Hem etwas an sich, das sie einte, und zwischen den beiden war ein wortloses Verständnis gewachsen. Es lag nicht nur daran, dass sie beide Waisen und gezwungen waren, in einer Welt zu bestehen, in der es niemanden kümmerte, ob sie weiterlebten oder starben. Ebenso wenig lag es nur an der Gabe, die sie beide besaßen. Ihre Nähe verstärkte Maerads Jugend. Wenn die beiden beisammen lagen, wurde deutlich, dass Maerad sich des Kindes in sich noch keineswegs völlig entledigt hatte. Wenn Cadvan ihre schlafenden Gestalten betrachtete, trat eine Traurigkeit in seine Augen, und seine Züge wurden zerbrechlich und abwesend, so als sähe er gleichzeitig ein mittlerweile fernes oder für immer verschwundenes Bild vor sich: eine Erinnerung an seine eigene Kindheit vielleicht, in der er selbst als noch unschuldiges Wesen bei seinen Brüdern und Schwestern geschlafen hatte, ohne etwas von Untoten, Finsternis oder Kummer zu ahnen.
    Am vierten Tag in Edinur lagerten sie abermals in einer bewaldeten Senke und suchten Zuflucht unter einigen Bäumen. Mittlerweile reisten sie durch weniger bevölkertes Gebiet, da der Südrand Edinurs allmählich in unbewohnte Höhenzüge überging. Sie erspähten seltener die schwarzen Umrisse von Häusern auf Hügelkuppen, und die Weiler lagen weiter auseinander. Maerad empfand dies als Erleichterung, denn die Ortschaften in Edinur drückten ihr aufs Gemüt. Die Höhenzüge erstreckten sich über etwa dreißig Meilen bis zu dem großen Tal von Norloch, das am Aleph begann, dem breitesten Strom in ganz Annar. Die Stadt, an der Küste gelegen, ragte hoch über die fruchtbaren Niederungen des Aleph auf, der sich an seiner Mündung in mehrere breite Flüsse teilte und durch ein dicht mit immergrünen Laubwäldern bedecktes Feuchtgebiet in die Bucht von Mithrad floss. Der Ritt der nächsten Nacht würde sie auf die Höhenzüge führen, und wenn alles gut verlief, würden sie im Morgengrauen des folgenden Tages Einzug in das Tal von Norloch halten.
    Doch all das erzählte Cadvan Maerad nicht, weil er fürchtete, Hem könnte ausbüxen, wenn er wüsste, dass Norloch bereits so nahe lag. Alles, was mit Barden zu tun hatte, schien eine tief in ihm verwurzelte Furcht wachzurütteln. Maerad hingegen wusste, dass sie sich allmählich dem Ende ihrer langen Reise näherten, und ihre eigene Beklemmung begann bereits ihre freudige Erregung zu überschatten. War schon Inneil entmutigend für sie gewesen, nachdem sie aus der Sklaverei eines unbedeutenden Gewaltherrschers dorthin entkommen war, würde sie dies in Norloch, der Hochburg des Bardentums, umso stärker empfinden, ganz gleich, was sie in den vergangenen drei Monaten gelernt hatte.
    Als sie am nächsten Abend aufbrachen, drehte der Wind. Das klare Sommerwetter schien sich zu wenden, und ein frostiger Wind wehte aus Westen, trieb rasch Wolken an den Himmel. Der Mond ging riesig und voll am Horizont auf, verhüllt von dunklen Wolkenfetzen. Cadvan schnupperte die Luft, zog seinen Mantel um sich zu und befestigte ihn so, dass er auch Hem bedeckte. Darsor stampfte rastlos mit den Vorderhufen auf den Boden.
    »Es wird eine harte Nacht«, meinte Cadvan. »Je weiter wir kommen, desto besser.« Eine Weile verharrte er

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