Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
stand er auf, ging zum Fenster, drehte ihr den Rücken zu und blickte in den Garten hinaus. »Ich dachte, du wärst im Begriff, mich an Enkir zu verraten«, ergänzte Maerad. »Ich konnte nicht verstehen, wie es möglich war, dass du nicht über ihn Bescheid wusstest.«
»Ich würde mein Leben darauf verwetten, dass Enkir kein Untoter ist«, gab Cadvan zurück und wandte sich ihr zu. Er schüttelte den Kopf, als versuchte er, ihn frei zu bekommen. »Maerad, ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer es mir fällt, das zu glauben. Enkir ist ehrgeizig und abweisend, dem stimme ich zu. Außerdem mag ich ihn nicht und bin mit vielem nicht einverstanden, was er getan hat. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass er ein sehr gelehrter Mann von großer Weisheit ist, und er ist der Oberste Barde des Zirkels. Er hat viel im Dienst des Lichts vollbracht, große Errungenschaften der Zauberkunst, wobei er sich stets ohne Rücksicht auf sich selbst verausgabt. Wie könnte das sein? Wie kann er seine Pläne und Taten vor so vielen Barden verbergen? Denn keiner derjenigen, die um jenen Tisch saßen, ist ein Narr oder einfach zu täuschen.«
Maerad saß schweigend da. Ihr erschien es vollkommen offensichtlich, dass Enkir grausam und von Böswilligkeit zerfressen war. Sie konnte nichts Edles an ihm entdecken.
»Vielleicht sind die anderen Barden wie er«, gab sie schließlich zu bedenken. Cadvan bedachte sie mit einem raschen Blick, erhob jedoch keine Einwände.
Gemeinsam saßen sie da und grübelten, bis der Türriegel betätigt wurde, was Maerad zusammenzucken ließ. Saliman trat ein, gefolgt von einem zierlichen, gut aussehenden Jungen, der einen Krug Bier trug. Maerad dachte zuerst, dass es sich um einen von Nelacs Schülern handelte, bis sie erkannte, dass es Hem war.
Saliman schaute von Maerad zu Cadvan und bemerkte die Stimmung, die im Raum herrschte. »Was geht denn hier vor?«, fragte er. Als ihm niemand antworten wollte, zog er die Augenbrauen hoch. »Na, jedenfalls möchte ich euch Cai von Pellinor vorstellen, der immer noch darauf besteht, Hem genannt zu werden.«
»Hallo, Hem.« Unwillkürlich lächelte Maerad. Hem präsentierte sich in einer unbeholfenen Mischung aus Stolz und Schüchternheit. Sein Haar war gewaschen und gestutzt worden. Sauber wirkte es merklich heller als zuvor. Er war schneidig im Stil Norlochs gekleidet: in eine blaue Hose aus schwerer Seide, eine langärmlige, scharlachrote Jacke aus derselben feinen Wolle wie Maerads Kleid und weiche, schwarze Lederstiefel. Unsicher durchquerte er den Raum und stellte den Bierkrug auf die Anrichte. »Du siehst gut aus«, stellte Maerad fest. Hem nickte, schien drauf und dran zu erröten und setzte sich neben sie.
»Saliman hat mich dazu gebracht, ein Bad zu nehmen«, erzählte er. »Es war gar nicht so übel.«
»Eine vollkommene Wandlung«, meinte Cadvan, der ihn eingehend musterte. »Jetzt siehst du tatsächlich aus wie der hochwohlgeborene Sohn aus dem Haus Kam.« Darob errötete Hem endgültig.
Saliman schenkte vier Gläser ein. Maerad und Cadvan bedachte er mit neugierigen Blicken, als er ihnen die Gläser reichte, doch er stellte keine Fragen. »Das Mindeste, was ihr tun könntet, wäre, mich zu dem Kunststück zu beglückwünschen, das ich vollbracht habe«, meinte er und nahm Platz.
»Meinen Glückwunsch«, erwiderte Cadvan mit den Anflug eines Lächelns. Er trank einen ausgiebigen Schluck Bier, und Stille kehrte ein.
»Wo ist Nelac? Es ist schon spät. Wir brauchen ihn hier«, stieß Cadvan plötzlich hervor. Wieder schüttelte er den Kopf, nach wie vor ungläubig. »Saliman, es ist viel schlimmer, als wir dachten. Finsternis erfüllt den Hohesitz der Macht, die Weiße Flamme selbst. Was sollen wir jetzt tun?«
Maerad fiel auf, dass es spät war; der Rat hatte über drei Stunden gedauert, und sie hatten in Nelacs Gemächern gesessen und geredet, während es draußen allmählich dunkel wurde. Cadvan hatte Saliman von Maerads Erinnerung erzählt, und wenngleich der Barde aus dem Süden betrübt gewirkt hatte, schien er nicht überrascht zu sein. »Cadvan, ich sage dir schon seit langem, dass im Norden das Licht trüb geworden ist«, sagte er.
»Aber im tiefsten Herzen der Flamme?«, entgegnete Cadvan.
»Ja, das ist schlimm«, räumte Saliman ein. »Ich hatte gehofft, es würde nicht so schlimm sein. Dennoch erstaunt es mich nicht. Es passt zu diesen Zeiten. Denk nur an Maerads Traum.«
Cadvan und Saliman bereitete Nelacs Abwesenheit
Weitere Kostenlose Bücher