Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Binnen fünfzehn Minuten hatten sie sich alle wieder unten versammelt und trugen Reisegewänder. Hem hatte ein neues Bündel dabei, ähnlich jenem Maerads, das Saliman ihm früher an jenem Tag geschenkt hatte. Sie legten ihr Gepäck in eine Ecke und nahmen Platz, um ihre angespannte Wache fortzusetzen.
Zehn Minuten später, die sich jedoch wie mindestens eine Stunde anfühlten, flog die Tür auf, und Nelac stürmte herein.
»Endlich!«, rief Cadvan aus und wandte sich sogleich an den alten Barden. »Nelac, wir haben Neuigkeiten …«
Nelac ließ rasch den Blick durch das Zimmer wandern. »Gut, ihr seid alle hier«, stellte er fest. »Ich glaube, ich kenne deine Neuigkeiten bereits, Cadvan. Vermute ich richtig, Maerad? Hast du die Finsternis in der Flamme gesehen, als sie dich wahrnahm?« Verblüfft starrte Maerad ihn an. Dies war ein Nelac, wie sie ihn zuvor noch nicht erlebt hatte. Alle Anzeichen des Alters waren von ihm abgefallen, und seine Stimme vermittelte eine selbstbewusste Autorität. »Uns bleibt sehr wenig Zeit«, fuhr er fort. »Der Zirkel ist zerbrochen, und ich weiß nicht, was nun geschehen wird. Ich habe mit Amdrith gesprochen, dem Hauptmann der Stadt. Ich denke, nicht alle werden Enkir treu bleiben, wenn er die Garde zum Einsatz ruft. Das sollte uns etwas Zeit verschaffen. Aber nicht viel.«
»Was ist geschehen?«, erkundigte Cadvan sich.
»Enkir hat mich des Verrats bezichtigt«, antwortete Nelac. »Mich und alle, die beim Rat gegen ihn gestimmt hatten. Er wollte uns alle einkerkern lassen. Der Zirkel hat darin nicht eingewilligt. Aber er wurde nur mit knapper Mehrheit überstimmt, und mein Herz lässt mich zweifeln; wie tief reicht diese Finsternis ? Enkir ist noch im Turm, tobt vor Wut und stachelt die anderen Barden mit Furcht und vergiftetem Misstrauen an. Ihr müsst Norloch sofort verlassen, solange noch Zeit ist.« Seine Augen hefteten sich auf die in der Ecke gestapelten Bündel. Er nickte. »Wie ich sehe, ist euch das bereits klar.«
»Wir haben nur auf dich gewartet«, erklärte Cadvan. »Alles ist bereit.« Er hielt inne. »Weißt du, dass Enkir bei der Plünderung Pellinors dabei war?«
Überrascht schaute Nelac zu Maerad. »Nein«, antwortete er. »Aber ich sehe bereits, dass Enkir ein ungeheuerlicher Verräter des Weistums und des Lichts ist. Nein, er ist kein Untoter«, fügte er hinzu und hob die Hand, als Maerad den Mund öffnete, um ihn zu fragen. »Er ist zu stolz, um sich dermaßen versklaven zu lassen. Ebenso wenig ist er der Namenlose selbst in Verkleidung eines Barden«, ergänzte er, um einer weiteren Frage zuvorzukommen. »Vielmehr trachtet er danach, die Finsternis für seine eigenen Zwecke auszunutzen und sich selbst uneingeschränkte Macht zu verschaffen. Er verbirgt sich im Herzen des Lichts, um seinen verräterischen Plänen nachzugehen. Mir ist regelrecht übel bei dem Gedanken, dass ich es nicht erkannt habe.« Nelac sah aus, als wäre er drauf und dran, vor Abscheu auszuspucken. »Aber in seinem Hochmut hat er die Macht der Finsternis unterschätzt; sie hat ihn verschlungen, obwohl er dachte, er lenke ihre Geschicke. So gerissen, und doch so ein Narr!«
Nelac schimmerte mit einem Licht, das Schatten in den düsteren Raum warf. Doch dies war nicht der friedfertige Sternenschein, den Maerad zuvor an ihm gesehen hatte; diesmal flackerte das Licht vor Zorn.
»Aber kommt, wir haben keine Zeit, um über Verrat zu reden«, sagte Nelac. »Wir müssen darüber nachdenken, wohin ihr gehen sollt.«
»Das haben wir bereits«, meldete sich Maerad zu Wort. »Cadvan und ich reisen nach Norden, Saliman nimmt Hem nach Süden mit. Es erschien uns besser so.« Nelac blickte über ihren Kopf in ungeahnte Ferne. »Ja, du sollst nach Norden gehen, sofern wir die Zeichen richtig deuten«, meinte er nach einer Weile. »Zumindest soviel ist klar. Und du musst das Baumlied finden. Wie du das machen sollst, weiß ich nicht. Das Licht wird dich leiten. Aber dein Weg ist finster, und ich kann nicht weit sehen.« Nelac berichtete ihnen, dass er für Maerad und Cadvan bereits für die Überfahrt mit einem Fischerboot gesorgt hatte, das ablegen würde, sobald sie am Kai eintrafen. »Es gehört einem Fischer namens Owan, einem alten Freund von mir aus Thorold, der mich heute aufgesucht hat«, erklärte er. »Er wartete in der Halle, als ich nach Hause kam. Ein glücklicher Zufall. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Eigentlich wollte ich euch alle mit ihm losschicken, aber ich finde
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