Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
unerbittlich willkürliche Bilder in ihr Bewusstsein. Schließlich erinnerte sie sich mit betäubendem Entsetzen an den schauerlichen Anblick von Cadvan und Darsor, die von der Gerölllawine begraben wurden. Blind und mit trockenen Augen starrte sie in die Dunkelheit.
Diesmal war sie wirklich alleine. Mit einem Schlag schienen all ihr Klagen, all ihr Trotz der letzten Tage so belanglos. Dies war die Katastrophe, vor der Cadvan sie zu warnen versucht hatte; sie aber, hochmütig und ihrer Macht sicher, hatte all seine Warnungen in den Wind geschlagen. Und ihre Macht hatte sie im Stich gelassen. Sie war außerstande gewesen, ihre Kräfte mit jenen Cadvans zu vereinen, wie es Barden an sich können sollten. Auch der Zugriff auf ihre Elementarkräfte war ihr verwehrt geblieben. Sie hatte elend in der Mitte ihrer selbst gehadert und versagt. Als die Erinnerung an die Ereignisse einsetzte, war sie beinahe froh über ihre körperlichen Schmerzen; verglichen mit ihren Seelenqualen fühlten sie sich geradezu erleichternd an.
Cadvans und Darsors Tod lasteten auf ihrem Gewissen. Und Imi, so dachte sie, war bei ihrer panikartigen Flucht getötet worden oder, schlimmer noch, lag mit gebrochenen Beinen auf einem unzugänglichen Hang, wo sie langsam und elend verdursten und verhungern würde.
Während Maerad die volle Bitterkeit ihrer Selbstbeschuldigungen auskostete, spielte sie mit dem Gedanken, sich in den Abgrund zu stürzen. Es wäre eine gerechte Strafe, befand sie nüchtern. Eine Kreatur wie sie hatte kein Recht zu leben. Eine solche Kreatur, die darin versagte, ihre Freunde zu beschützen, verdiente auch keine Freunde.
Allmählich wurde die Dunkelheit etwas weniger undurchdringlich, und sie erkannte die Umrisse des Pfades, die sich schimmernd gegen die hellere Düsternis des Himmels abzeichneten. Maerad schaute auf und erblickte dort, wo der Mond sich über den schwarzen Klingen der Gebirgskette hinter einer Wolkenbank versteckte, einen verschwommenen, silbrigen Schemen. Maerads Gesicht juckte vor Blut; linkisch versuchte sie, sich die Augen mit den vor Raureif steifen Handschuhen abzuwischen. Ich brauche etwas zu trinken, dachte sie, als sich eines der allgemeinen Leiden, die sie plagten, als überwältigender Durst herauskristallisierte. Ihre Lippen erwiesen sich als staubtrocken und aufgesprungen. Oh, ich bin so durstig und hungrig, dachte sie. Aber es gibt weit und breit nichts zu trinken und zu essen…
Reglos, in Hoffnungslosigkeit versunken saß sie da. Erst, als sie das Gewicht verlagerte, um die Schmerzen in ihrem Körper zu lindern, fiel ihr ein, dass sie immer noch ihr Bündel am Rücken trug. Mit jäher Hast schlang sie es sich von den Schultern und versuchte, es zu öffnen, doch ihre Finger waren so taub, dass sie von den Schnallen abglitten. Irgendwann gelang es ihr, und sie holte zunächst die Wasserflasche hervor, aus der sie einen ausgiebigen Schluck trank, dann den Medhyl, der ein wenig Feuer durch ihre durchfrorenen Adern strömen ließ. Anschließend wickelte sie etwas Zwieback aus, von dem sie jedoch nur wenig aß, da das Kauen schmerzte. Ihre Lippen fühlten sich an, als stünden sie in Flammen.
Dennoch hatte sie sich danach so weit erholt, dass sie ein winziges magisches Licht entfachen konnte, mit dessen Hilfe sie das Bündel durchsuchte, bis sie eine Salbe fand, die sie sich erst auf die Lippen, dann ins Gesicht schmierte, um das Stechen ein wenig zu lindern. Kurz berührte sie die Reetflöte, die sie von der Elidhu erhalten hatte. Einen Lidschlag lang erfüllte das helle Grün der Wälder zu Beginn des Frühlings ihre Gedanken, und sie erinnerte sich so an Ardina, wie sie ihr zum ersten Mal im Wagwald erschienen war, vor langer, langer Zeit, scheinbar in einem anderen Leben. Ein Liedtakt flutete in ihren Geist. Unbeholfen ergriff Maerad mit den behandschuhten Fingern die Flöte und betrachtete sie, als hätte sie das Instrument noch nie zuvor gesehen. Sie hatte noch nie darauf gespielt. Es war eine einfach geschnitzte Flöte wie von einem Kind, gefertigt aus dunklem, etwas purpurnem Schilf und gebunden mit geflochtenem Gras. Maerad fragte sich, wie sie sich anhören mochte. Sie fühlte sich verpflichtet, ein Klagelied für Cadvan, Darsor und Imi anzustimmen. So machten das Barden - und sie war immer noch eine Bardin, auch wenn sie ihre Berufung verraten hatte. Kurz dachte sie an ihre Leier, doch sie wusste, dass ihre Finger zu steif waren, um darauf zu spielen. Zudem befand sie ein anderer
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