Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Teil ihrer Gedanken als unwürdig, die Leier zu berühren, als hätte sie ihr Recht auf diesen ihren kostbarsten Besitz verwirkt.
Eine lange Weile harrte sie mit der Flöte lose in der Hand aus, während die Nacht immer kälter wurde. Schließlich traf sie eine Entscheidung und trank noch etwas Medhyl. Dann zog sie sich unter Schmerzen die Handschuhe aus und rieb sich etwas Medhyl und Salbe in die Hände. Ihre Finger brannten gnadenlos, aber letztlich gelang es ihr, sie ausreichend zu beugen und zu strecken, um die Flöte richtig zu halten. Sie setzte das Instrument an die Lippen und blies vorsichtig hinein. Ihre Lippen waren derart aufgesprungen, dass sie der Flöte zunächst keinen Ton zu entlocken vermochte, aber sie blieb beharrlich, und mit einem kleinen Hochgefühl schaffte sie es, eine leise Note hervorzuzaubern, ein dünnes, hohes Säuseln, das an über Felsen streichenden Wind erinnerte.
Sie spielte einige Tonleitern auf und ab und ging trotz ihrer äußersten Notlage völlig in ihrer Begeisterung für Musik auf. Als Kind hatte Maerad ähnliche Instrumente gespielt, die sie recht gut beherrschte. Diese Flöte war ungewöhnlich volltönend, wodurch sie den Noten einen ausdrucksstarken Klang verleihen konnte. Nachdem sie die Flöte zu ihrer Zufriedenheit getestet hatte, erhob sie sich. Sie brauchte eine Weile dafür, denn beim ersten Versuch knickten die Beine unter ihr ein, doch sie kämpfte mit entschlossener Sturheit weiter, bis es ihr gelang, aufrecht zu stehen, ohne sich an die Felswand lehnen zu müssen. Verbissen pflanzte sie die Füße auf den Boden. Dann holte sie tief Luft, schloss die Augen und spielte.
Sie spielte für Darsor und Imi, ihre Freunde, die mit ihr so viel durchgemacht hatten. Sie spielte für deren Schönheit, als sie frei über die Rilnik-Ebenen rannten, dazwischen austraten und einander neckten, die Mähnen wie Wellen aus schwarzer Seide und poliertem Silber im Wind hinter ihnen herwehend, während Cadvan und sie das Abendmahl aßen. Sie spielte für ihre schlichte, bedingungslose Gefährtschaft, für Imis Nase, die sie an der Schulter stupste und leise wieherte, um sie zu trösten, für das stumme Behagen ihres Mitgefühls. Sie spielte für Darsors derben Humor, seine Ausdauer, seine unerschütterliche Treue. Und zu guter Letzt, auf dass es nicht unbemerkt bliebe, selbst wenn sie an Ort und Stelle stürbe, spielte Maerad für Darsors heldenhaften Versuch, sie vor der Gesteinslawine zu retten, für seinen schillernden, ungebrochenen Geist und sein großes Herz, das selbst im Angesicht der völligen Verheerung nie auch nur einen Lidschlag zauderte oder eine Niederlage eingestand.
Mit nach wie vor geschlossenen Augen ließ sie das Lied ausklingen, dann neigte sie das Haupt und ließ eine Weile der Stille folgen. Schließlich hob sie die Flöte wieder an und spielte für Cadvan.
Sie hatte Cadvan geliebt, und er hatte sie geliebt; nun wurde ihr mit einer unbändigen Verbitterung klar, dass sie diese Liebe missverstanden hatte. Er war ihr erster Freund gewesen, der Erste, der sie als das erkannt hatte, was sie war; er hatte sie aus der Sklaverei eines nichtigen Gewaltherrschers befreit und ihr die Welt des Bardentums gezeigt, eine Welt des Liebreizes und der Menschlichkeit, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Maerad erinnerte sich noch an den ersten Anblick seines von Schatten umwölkten Gesichts, erschöpft und traurig, damals im Kuhstall in Gilmans Feste; sie hatte ihm auf Anhieb vertraut und jenes Vertrauen trotz aller Zwistigkeiten zwischen ihnen aufrecht gehalten. Sie dachte zurück an die Stunden seines Unterrichts; wie freigiebig er seine Gaben mit ihr geteilt, wie geduldig er ihren erstaunten Augen die Geheimnisse und Wunder der Welt offenbart hatte. Und sie erinnerte sich an das Strahlen seines Lächelns, wenn der Brunnen seiner Freude überquoll und alles um ihn herum erhellte.
Nun, da er für immer gegangen war, schien sie ihn zum ersten Mal deutlich zu erkennen: unvollkommen, getrieben, gehetzt, ernst, innerlich gespalten; aber auch aufrecht, ehrlich, großzügig, stark und sanftmütig. Er hatte alles zugleich verkörpert, ihren Vater, ihren Lehrmeister, ihren Freund. Ihre trauernde Liebe schwang in den reinen, herzergreifenden Noten mit, erfüllte die trostlose Gebirgslandschaft mit einem unerfüllbaren Sehnen nach allem, was sie verloren hatte. Tränen kullerten ihr über die Wangen und gefroren auf der Flöte und ihren Fingern. Maerad, völlig in der Musik
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