Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Nacht keinen Frost gegeben, dafür war sie mit eiskaltem, schweren Tau durchnässt, und die graue Welt rings um sie wirkte kahl und leer. Maerad schnupperte die Luft; der Wind veränderte sich, brachte kältere Böen aus dem Norden, und am Himmel zogen dichte, gelbliche Wolken auf. Hastig verspeiste Maerad ihr bescheidenes Frühstück, ohne die sich auftürmenden Wolkenbänke aus den Augen zu lassen, und wusch sich anschließend kurz im eisigen Wasser des Flusses. Wie immer bei Vollmond hatte ihre Regelblutung eingesetzt, und sie sehnte sich nach einem Bad. Maerad verfluchte den Zeitpunkt; so fühlte sie sich noch zerbrechlicher als sonst, als bestünde sie aus Glas, dabei musste sie gerade jetzt besonders stark sein. Mühsam versuchte sie, sich das Haar zu kämmen, aber durch das tagelange Schlafen im Freien hatte es sich so verfilzt, dass der Kamm beinahe brach, und sie gab es auf. Als sie schließlich keinen Grund mehr fand, den Aufbruch hinauszuzögern, setzte sie sich zutiefst widerstrebend Richtung Murask in Bewegung.
Je näher Maerad der Siedlung kam, desto mehr verwirrte sie der Anblick. Der Ort sah überhaupt nicht wie ein Dorf aus. Mittlerweile passierte sie regelmäßig grasende Ponyherden, beaufsichtigt von Hirten in bunten Zmarkan Jacken, aber sie sah weit und breit keine Wagen. Der grüne Hügel wurde größer und größer, während sie darauf zumarschierte; er bildete die einzige Erhebung in diesen riesigen, flachen Weiten. Allmählich dämmerte ihr, dass Murask innerhalb des Hügels liegen musste. Maerads Anspannung wuchs, und ein Teil von ihr spielte tatsächlich mit dem Gedanken, einfach umzukehren und davonzulaufen. Aber wohin ?, dachte sie verzweifelt. Du hast keine andere Wahl — wenn sie dich nicht hineinlassen, erfrierst du. Wie in Antwort auf ihre Gedanken schwebten ein paar vereinzelte Schneeflocken müßig vom Himmel herab. Sie schlug den Kragen hoch, verdrängte jegliche Grübeleien und widmete alle Aufmerksamkeit dem Gehen. Mitte des Vormittags gelangte sie zum Tor von Murask. Die Landschaft ringsum war schon von einer dünnen weißen Schneeschicht bedeckt, und Maerad stampfte mit den Füßen, um sich warm zu halten, während sie vor dem Tor stand und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Über ihr ragte der Hügel auf, fast zwei Kiefernbäume hoch und beinahe so steil wie eine Wand. Aus nächster Nähe war offenkundig, dass es sich um keine natürliche Erhebung handelte, obwohl kurze grüne Grassoden sie bedeckten, durch die sie wie ein Teil der Ebene wirkte. Unten am Rand wuchsen Haselnusssträucher, kleine Weiden und Dornenbüsche.
Das Tor selbst war riesig, so hoch wie vier Menschen. Es bestand aus dicken Eisenstäben, durch die Maerad einen düsteren, von Fackeln erhellten Tunnel erkennen konnte. Hinter den Stäben befanden sich zwei Flügel einer robusten Holztür, die keinerlei Verzierungen aufwiesen und den Eindruck vermittelten, uralt zu sein - älter als alles, was Maerad in den Bardenschulen gesehen hatte, vielleicht so alt wie die stehenden Steine in den Niederungen von Annar. Entmutigt schluckte Maerad. Das Tor war verschlossen, und sie sah weit und breit niemanden, der es hätte öffnen können. Versuchsweise drückte sie gegen die Stäbe, doch wie erwartet, war es verriegelt.
Abermals sah sie sich um, und diesmal erspähte sie seitlich eine Messingglocke, von deren Klöppel eine dünne Metallkette hing. Maerad zog daran, und die Glocke läutete. Das ungewohnte Geräusch klang so laut inmitten der stillen Landschaft, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Zunächst geschah gar nichts, doch nach einer Weile öffnete sich eine kleine Tür links des Tunnels, die sie anfangs übersehen hatte. Ein Mann kam herausgehumpelt und sagte etwas auf Pilanel. Maerad hatte noch nie einen so kleinen erwachsenen Mann gesehen. Sein Kopf wirkte zwischen die Schultern gedrückt, und sein Rückgrat war zu einem Buckel gekrümmt. Allerdings besaß er mächtige Arme, die gewaltige Kraft erahnen ließen. Da Maerad ihn nicht verstand, blieb sie einfach stehen und streckte ihm das Symbol entgegen, das sie von Mirka erhalten hatte. Der Mann spähte durch die Gitterstäbe des Tors und musterte Maerad unverwandt. Dann zuckte er mit den Schultern, murmelte etwas bei sich, das sich wie ein Fluch anhörte, humpelte zurück in seine Kammer und schloss die Tür hinter sich.
Plötzlich wurde Maerad klar, dass sie sich noch immer hinter einem Trugbann verbarg, und sie hätte beinahe aufgelacht. Es
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