Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
erkannte sich nicht.
Und die Finsternis dachte, und sie dachte ohne Geist,
Und der Gedanke wurde Geist, und der Geist belebte sich,
Und der Geist ward Licht.
Im Anfang war das Dunkel…
Maerad grübelte über die Worte nach. Sie hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht. War damit dieselbe Finsternis gemeint, die sie verfolgte, oder eine andere Finsternis? Vielleicht ähnlich wie die Himmelslichter, die sie in der Nacht zuvor gesehen hatte; auch sie waren ein Licht gewesen, jedoch nicht dasselbe Licht, von dem die Barden sprachen, die Weiße Flamme von Norloch. Wie Wellen durch einen Bach ließ sie die Gedanken durch ihren Geist rollen und ineinander fließen. Gleichzeitig spürte sie, wie die Musik sie durchströmte, sie beruhigte und einen tief verwurzelten Teil ihrer selbst weckte, von dem sie nicht gewusst hatte, dass er schlummerte. Den Rest des Tages und die ganze lange Nacht hindurch spielte Maerad sich die Finger wund und sang sich die Kehle heiser, auch wenn sie nicht durchgehend sang. Zwischen den Liedern legte sie Pausen ein und dachte nach. Dabei stiegen allerlei Erinnerungen in ihr auf: das verdrießliche Antlitz Mirlads, ihres ersten Lehrmeisters, wie er sich über seine Harfe beugte, oder Cadvan, wie er in der Halle in Inneil sang. Sie hatte so lange nicht gespielt, dass sie sich wie eine Verhungernde fühlte, der plötzlich ein Festschmaus vorgesetzt wurde; die Worte der Lieder schienen ihr so frisch, als hätte sie diese zuvor nie gehört oder bisher nie richtig verstanden.
Der Tag und die Nacht verstrichen schneller, als sie erwartet hatte. Als sie das erste Tageslicht durch die Ränder des Eingangs schimmern sah, badete sie erneut und kleidete sich sorgsam an. Danach verstaute sie die Leier in ihrer Hülle, schlang sie sich auf den Rücken, holte tief Luft und trat hinaus. Wie versprochen lag auf der Schwelle ein Bündel mit Seehundfleisch bereit, das sie zu Inka-Reb mitnehmen konnte. Als sie es aufhob, erwies es sich als groß und schwer. Ihren wunden Augen erschien die Welt sehr grell, weshalb sie das Gesicht beschattete. Wie beschrieben, folgte sie einem von weißen Steinen gesäumten Pfad, der von den Häusern weg zu einem anderen Teil der Quellen führte. Bald gelangte sie zum Eingang einer großen Höhle. Mit grässlichem Entsetzen stellte sie fest, dass davor ein mächtiger weißer Wolf stand. Mit eisblauen Augen betrachtete er sie kurz, ehe er in die Höhle verschwand. Maerad verharrte einen Augenblick, um allen Mut zusammenzunehmen, dann folgte sie ihm. Das Licht reichte vom Höhleneingang ein gutes Stück ins Innere. Dadurch konnte sie erkennen, dass die Wände sich verschmälerten und in einer Sackgasse zu enden schienen. Allerdings war der Wolf nirgends zu sehen, und ihr wurde klar, dass die Höhle weiter innen eine Abzweigung besitzen musste. Mit zögerlichen Schritten ging sie weiter und stieß auf eine rechtwinkelige Biegung in einen niedrigen, dunklen Gang. Etwa hundert Schritte entfernt glomm ein trübes Licht.
Langsam durchschritt Maerad den Gang und fragte sich, was sie an dessen Ende vorfinden würde. Ein Rudel Wölfe? Grauen erfüllte sie, doch von dem Tag und der Nacht, die sie alleine verbracht hatte, nistete noch eine tiefe Ruhe in ihr, mit deren Hilfe es ihr gelang, ihre Furcht zu verdrängen und weiterzugehen. Der Weg erschien ihr lang, aber letztlich gelangte sie am fernen Ende des Tunnels in eine riesige, runde Kammer. An der Schwelle hielt sie inne.
In der Höhle hielt sich tatsächlich ein Rudel Wölfe auf. Das Erste, was ihr auffiel, war der durchdringende, wilde Gestank der Raubtiere. Auf dem Boden lagen Knochen verstreut, wahrscheinlich von Rehen, allerdings sahen sie für Maerad beunruhigend nach menschlichen Gebeinen aus. Es waren zwischen zwanzig und dreißig Wölfe, die alle in einem Halbkreis auf dem Boden hockten und die Blicke auf sie geheftet hatten. Keines der Tiere rührte sich. In der Mitte des Kreises befand sich der gewaltigste Mann, den Maerad je gesehen hatte. Er wirkte fast doppelt so groß wie sie und war unglaublich dick. Das lange schwarze Haar hing ihm in einem Dutzend fettiger Zöpfe bis zur Hüfte, und er war nackt. Die Haut hatte er sich mit etwas eingeschmiert, das nach einer Mischung aus Fett und Asche aussah. Um den Oberarm trug er einen Reif aus geschnitzten Knochen, um den Hals hing ihm an einem Lederriemen ein Anhänger aus schwarzem Stein. Der Hüne kauerte neben einem über einem kleinen Feuer hängenden Kessel, in dem er
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