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Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel

Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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Worte drangen tief in Maerads Seele ein, als rüttelten sie Erinnerungen an eine Zeit vor ihrer Geburt wach. Schweigend saß sie da und brannte sich die Runen ins Gedächtnis; sie erinnerte sich an Ardina, wie sie die Elidhu zuletzt gesehen hatte, gleißend vor silbrigem Licht, wunderschön und zwiedeutig, die Tochter des Mondes.
    »Was sind die anderen?«
    Mit unergründlicher Miene schaute Arkan auf. »Dies sind die Runen des Frühlings und des Sommers«, sprach er getragen. »Es sind Forn für den mittleren Frühling; Sal für den späten Frühling; Hrar für den frühen Sommer; Dir für den Mittsommertag; und Tren für den mittleren Sommer. Der Rest des Jahres ging verloren, als Sharma die Runen stahl. Das war das zweite Übel.«
    »Er nahm den Winter?«, fragte Maerad leise. »Ja.«
    »Wie sind diese Runen verlorengegangen? Hat niemand sie irgendwo aufgeschrieben?«
    Arkan ließ sich zu keiner Antwort herab. Stattdessen betastete er wieder mit geschlossenen Lidern die Runen. Maerad beobachtete ihn. Mit geschlossenen Augen wirkte er menschlicher; in Ruhe war sein Antlitz wunderschön. Maerad schüttelte sich und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Runen. »Forn, die Erle«, erklärte der Winterkönig. »Sal, die Weide; Hrar, der Weißdorn; Dir, die Eiche; und Tren, die Stechpalme.«
    Danach schwieg er lange, und Maerad wartete geduldig, bis er fortfuhr. Als er es nicht tat, fragte sie: »Und gibt es auch für diese Runen Strophen?« Arkan öffnete die Augen und sah sie unverwandt an. Aus seinen Zügen sprach eine Trostlosigkeit, die sie bestürzte.
    »Die Runen sind leer«, antwortet er. »Sie sind tot. Sie in die Luft zu sprechen gleicht blankem Grauen.«
    Maerad wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und blickte verwirrt drein. Arkan seufzte schwer.
    »Ich werde sie ein einziges Mal aussprechen. Du musst sie dir einprägen.« Maerad nahm wahr, wie das Licht im Thronsaal schwand. Sie wartete und spürte dabei, wie ihr das Herz laut und schwer bis in die Kehle schlug. Nach scheinbar endlosem Schweigen ergriff Arkan das Wort, und seine tiefe Stimme hallte durch den Raum:
     
    Ich bin die herabfallenden Tränen der Sonne
    Ich bin der zum Fels aufsteigende Adler
    Ich bin alle Richtungen über das Antlitz der Wasser
    Ich bin die blühende Eiche, welche die Erde verwandelt
    Ich bin der blitzende Pfeil der Vergeltung
     
    Nachdem Arkan geendet hatte, bedeckte er mit einer Hand das Gesicht, und eine quälende Stille erfüllte den Thronsaal. »Die Musik fehlt«, stellte Maerad fest. 
    »Die Musik lebt nicht in den Runen«, erwiderte Arkan. »Die Runen sind tot.« »Ohne Musik kann ich das Lied nicht spielen«, gab sie zurück. »Wie soll ich die Musik finden ? Ich kann dieses Lied nicht spielen.«
    »Glaubst du etwa, irgendetwas könnte leben, wenn es in zwei Hälften zerrissen wird?« Mit harten, eisigen Augen funkelte Arkan sie finster an, und einen Lidschlag lang fürchtete Maerad, er würde sie mit bloßen Händen entzweibrechen. Stattdessen warf er die Leier zurück in ihre Arme, als hätte sie ihn verbrannt.
    »Geh«, sagte er. »Lass mich allein.«
    Die Gänge waren kalt, und dem Licht haftete eine düstere Schönheit an; Maerad hatte das Gefühl, die Wände besäßen Augen, die beobachteten, wie sie einherstolperte. Es erstaunte sie, dass sie überhaupt noch laufen konnte - ihre Beine zitterten unter ihr, als könnten sie jeden Augenblick nachgeben. Gima war weit und breit nicht zu sehen.
    Sie fand ihre Kammer und brach auf dem Bett zusammen. Auf dem Rücken liegend starrte sie an die Decke, zu erschöpft, um sich zu bewegen. Schaudernd erinnerte sich an die Miene des Winterkönigs, wie er ihr von den Runen erzählt hatte, an seine schwarzen Wimpern über der marmornen Haut der Wangen, an das Feuer, das bei seiner Berührung in ihren Adern aufgeflammt war. Doch trotz allem wusste sie, dass er rücksichtslos und gnadenlos war; sowohl Cadvan als auch Dharin waren durch sein Wirken gestorben. Maerad bezweifelte nicht, dass er auch sie ohne Gewissensbisse töten würde, wenn sie ihm nicht von Nutzen wäre.
    Ihre Lage war aussichtslos.
    Ich muss Hem finden, sagte sie sich. Ich muss ihn unbedingt aufspüren. Doch es blieb ein bloßer Gedanke; ihre Entschlusskraft war wie gelähmt. Sie stellte fest, dass es ihr nicht gelang, sich Hems Gesicht vorzustellen; ihre Erinnerung an ihn erschien gegenstandslos und fern, sodass sie das Bild mühevoll zusammensetzen musste, statt es sich einfach ins Gedächtnis zu

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