Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
musste sie ein jäh aufkeimendes, nagendes Bedauern verdrängen. Der Winterkönig würde sie für eine Verräterin halten. Er hatte kein Recht dazu, so über sie zu denken, zumal er sie gefangen genommen und eingesperrt hatte, dennoch würde er so denken.
Einer Eingebung folgend holte Maerad einen ihrer kostbaren Papierbögen und ihre Feder aus dem Bündel. Sie setzte sich und glättete den Bogen auf der Truhe, dann hielt sie inne. Sie wusste zwar nicht, ob der Winterkönig die Bardenschrift lesen konnte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, ihm ein paar Worte zu schulden, wenngleich sie ihm, wie sie fand, nach jeglichen Maßstäben der Gerechtigkeit eigentlich überhaupt nichts schuldete.
Sie biss sich auf die Lippe, dann schrieb sie sorgfältig die Rune Eadha, die Eibe, die Rune der Mondfinsternis: Ich bin der Angelpunkt jeder Frage. Sie drückte ihr schlafendes Ebenbild zur Seite, das sich regte und plötzlich laut aufschnarchte, und legte das Papier unter den Körper. Dann schulterte sie mit einem merkwürdigen Gefühl der Erleichterung wieder das Bündel und ging hinaus auf den Flur.
Angesichts ihrer Macht löste sich der Zauber des Eispalastes auf. Da wurde ihr klar, dass sie den Weg durch den unverhexten Palast nicht kannte. Zwar fand sie sich in den Trugbildern der Gänge zurecht, doch nun sah alles völlig anders aus: Sie betrat einen pechschwarzen Flur. Zutiefst entsetzt wiegte sie sich auf den Fersen vor und zurück: Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie könnte womöglich verwirrt durch das Herz des Berges irren, bis der Winterkönig entdeckte, wie sie ihn überlistet hatte. Der Gedanke erfüllte sie mit Grabeskälte. Ich könnte zurückgehen, dachte sie. Ich könnte alle Zauber aufleben, und niemand würde es erfahren. Die Vorstellung nagte qualvoll an ihr; sie fühlte sich bereits müde, und der Weg durch den Palast war lang. Selbst wenn sie es nach draußen schaffte, wusste sie noch nicht, wie sie unter dem Bogen hindurchgelangen sollte oder was danach geschehen würde. Außer der Flucht aus dem Palast hatte sie keinerlei Pläne. Sie könnte es am nächsten Tag erneut versuchen und in der Zwischenzeit mehr herausfinden. Beinahe wäre sie in ihre Kammer zurückgekehrt.
Ein tief sitzender Trotz flackerte voll Verachtung für ihre Schwäche auf. Und noch etwas anderes schwelte unter ihren Zweifeln, ein untrügliches Gefühl der Dringlichkeit, dass sie angetrieben hatte, seit sie aus dem Thronsaal gekommen war. Die Zeit wurde knapp; sie konnte es sich nicht leisten, länger zu warten. Maerad holte tief Luft, dann begann sie sich einen Weg durch die Dunkelheit zu bahnen, indem sie mit den Fingern leicht die Wände entlangfuhr. Sie würde sich den Pfad durch Berührung einprägen müssen, da sie nicht wagte, ein magisches Licht einzusetzen.
Um keinen Fehler zu begehen, ging sie ganz langsam, hielt häufig an, um den Weg in Gedanken zu überprüfen, und sandte ihr Gehör voraus. Sie vernahm ein leises Atemgeräusch, das vermutlich von der schlafenden Gima stammte, das Tropfen von Wasser in fernen Höhlen, die Bewegungen von ungeahnten Kreaturen in den Tiefen des Berges; sonst jedoch hörte sie nichts. In der Dunkelheit kam ihr der Weg länger vor, und nach einer Weile begann sie sich zu fragen, ob sie trotz aller Sorgfalt irgendwo falsch abgebogen war. Seltsame Lichter tauchten vor ihren Augen auf, ihre Beine wurden schwerer und schwerer, und das Bündel fühlte sich wie Blei auf ihren Schultern an. Ihre linke Hand schmerzte heftig.
Sie war fast schon davon überzeugt, dass sie sich völlig verirrt hatte, als sie einen leisen Hauch kalter Luft im Gesicht spürte, die sich frisch und sauber anfühlte, ganz anders als jene im Palast. Also ging sie doch in die richtige Richtung. Ermutigt eilte sie weiter, und bald sah sie, wie sich ein hellerer Flecken aus der Dunkelheit löste, der Höhleneingang, von silbrigem Sternenlicht erfüllt.
Fast schwindlig vor Erleichterung trat Maerad hinaus in den Schnee und schaute zum Himmel empor. Unwillkürlich suchte sie nach Ilion, dem Stern des Sonnenaufgangs und Abends, den sie als den ihren betrachtete, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken; wahrscheinlich herrschte tiefste Nacht. Die Luft stach wie mit Klingen aus Eis in ihre Lungen, dennoch atmete Maerad tief durch und genoss den Geschmack der Freiheit.
Binnen weniger Augenblicke zitterte sie vor Kälte. Sie holte ihren Mantel aus dem Bündel, erinnerte sich daran, wie Dharin ihn als unzulänglich
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