Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
es folgte ein lange währender Friede. All die Zeit lebte das Lied in den Elidhu und war glücklich dabei, obwohl es fand, dass die Welt verworrener und trauriger war, als es gedacht hatte. Allmählich veränderte sich das Lied und wurde darob noch schöner, denn Schatten und Tod schlichen sich darin ein, ließen es hell und dunkel, hoch und tief werden. Die Stimmen der Elidhu schwollen vor Verzücken an, denn sie liebten die Schönheit des Lieds.
Doch es begab sich, dass sich ein König erhob, der das Lied hörte, und er wurde überwältigt von der Sehnsucht nach dessen Liebreiz. Er konnte vor lauter Gedanken an das Lied nicht schlafen und nicht essen, und jeder Tag, den er es nicht für sich haben konnte, glich für ihn einer Ewigkeit aus Staub. Eines Tages stahl er das Lied von den Elidhu.
Aber die Elidhu wollten es nicht loslassen, und so brach das Lied mit einem entsetzlichen Geräusch gleich dem Bersten der ganzen Welt entzwei; eine Hälfte ging nach Süden, die andere nach Norden. Als es sich teilte, zog die helle Hälfte in die eine Richtung, die finstere in die andere. Und seither ist die Welt entzweit, und das Lied ist unglücklich.«
Abgesehen von Ankils Bürsten herrschte lange währende Stille.
»Das ist alles?«, fragte Maerad.
»Ja«, bestätigte Ankil und nickte. »Das ist alles.«
Cadvan setzte sich mit reger Miene auf. »Ankil, ich habe diese Geschichte noch nie zuvor gehört«, sagte er. »Aber das Lied - das Lied der Elementare -, das ist doch gewiss das Baumlied.«
»Naja, das verrät uns aber immer noch nicht, was es ist«, warf Maerad ein. »Nein, das vielleicht nicht … Aber die Geschichte bezieht sich offensichtlich auf die Kriege der Elementare, anschließend auf einen König … Es muss sich um den Namenlosen handeln. Um Sharma, den König aus dem Süden.« Seine Brauen krümmten sich. »Und ich denke, es berichtet vom Bindungsbann, den er schuf, um seinen Tod zu verbannen und seinen Namen zu verstoßen. Vielleicht hat er das Baumlied geteilt…«
»Nun, du hast mal gesagt, dass du eine Weile dachtest, der Bann hätte mit dem Wissen der Elidhu zu tun«, sagte Maerad. »Vielleicht hattest du recht. Aber wie findet man ein Lied? Wurde es aufgeschrieben?«
»Ich weiß es nicht. Womöglich ist mit der Stelle der Geschichte, an der es heißt, das Lied wurde gestohlen, das gemeint - dass es aufgeschrieben wurde, statt in den Elidhu zu leben. Es ist alles so undeutlich.« Enttäuscht und verärgert klopfte er auf den Tisch.
Die drei verfielen in ein nachdenkliches Schweigen und beobachteten, wie der alte Mond über die Gebirgsweiden kletterte. Maerad wurde der Laute der Grillen gewahr, die im Gras zirpten, und des verschlafenen, nächtlichen Blökens der Ziegen.
»Wisst ihr, wie man den Namenlosen an manchen Orten auf Thorold nennt?«, fragte Ankil in Gedanken versunken und durchbrach damit die Stille. »Wie?« Cadvan drehte sich ihm zu.
»Den Halbgeschaffenen.«
»Der Halbgeschaffene. Das Geteilte Lied.« Cadvan blickte auf seine Hände hinab. »Da besteht doch bestimmt ein Zusammenhang.«
»Vielleicht.« Ankil war mit dem Polieren der Stiefel fertig und stellte sie ordentlich neben seinen Stuhl. »Tja, was es aus dem Mund eines alten Ziegenhirten auch wert sein mag, ich denke, es ist sogar sehr wahrscheinlich.«
Sechstes Kapitel
Der Löwe aus Stein
In den folgenden Wochen nahm das Leben seinen langsamen, gewohnten Lauf. Maerad erwachte früh an jedem Morgen, fühlte sich erfrischt und ging zum Fenster, um auf das Hochland von Thorold hinauszublicken. Sie liebte ihr schlichtes Schlafzimmer, dem es zwar an all den Annehmlichkeiten von Inneil oder Busk mangelte, das jedoch dafür mit anderen Vorzügen aufwartete, die jene Kammern nicht bieten konnten. Jeden Morgen strömte die frühe Luft frisch und ungeatmet durch ihr Fenster, leicht nach Gras riechend, und trug ihr das leise Bimmeln der Glocken der grasenden Ziegen zu; und kein Wandgemälde kam der Aussicht gleich, die sie genoss. Maerad spürte, wie sich die tief sitzende Erschöpfung, die seit der Flucht aus Norloch beharrlich angehalten hatte, allmählich verflüchtigte und letztlich ganz auflöste. Die dunklen Ringe verschwanden unter ihren Augen, und ihre Haut nahm eine gesunde Farbe an. Die Aussicht war jeden Morgen anders: Manchmal waren die Täler in Nebel gehüllt, sodass es aussah, als blickte sie über ein riesiges weißes Meer mit grünen Inseln hohen Geländes, das daraus hervorstach, in goldenes Sonnenlicht
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