Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
machte Ankil, nachdem sie mit ihrer Erzählung geendet hatte. »Nun ja, ich weiß nicht, ob der Lamedon uns helfen kann. Wie er mir bei mehreren Gelegenheiten offenbart hat, liegen ihm Barden nicht allzu sehr am Herzen, und die Kämpfe des Lichts und der Finsternis sind ihm von jeher einerlei. Er ist anders als die Elidhu von Annar, die sich noch an die Dhyllin und die Tage Afmnils erinnern, als Barden und Elidhu gemeinsam sangen.«
»Glaubst du, er würde vielleicht mit mir reden?«, fragte Maerad zweifelnd. »Ich beherrsche die Sprache der Elidhu.«
Ankil bedachte sie mit einem so offenen Blick, dass sie beinahe errötete. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber ich denke, eher nicht. Und könntest du überhaupt die Gipfel des Lamedon erklimmen?«
Maerad dachte an die Schwindelgefühle zurück, die ihr die Höhen verursacht hatten, und schauderte. »Nein«, erwiderte sie.
»Das glaube ich auch nicht«, erklärte Ankil ehrlich. »Selbst für einen erfahrenen Kletterer und sogar im Sommer ist es eine Herausforderung. Und du bist so leicht - der Wind würde dich erfassen und in eine Gletscherspalte schleudern oder nach Busk hinabwehen.«
»Schade«, meinte Cadvan. »Obwohl es sich natürlich als so fruchtlos erweisen könnte wie mein Durchforsten der Dokumente aus dem alten Thorold. Wie findet man etwas, wenn man nicht weiß, was es ist.«
»Keine Ahnung«, gestand Ankil. Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Aber ich glaube, das erinnert mich an etwas. Erzählt man sich in Annar etwas vom Geteilten Lied?«
»Nein«, gab Cadvan zurück. »Das Geteilte Lied?«
»Es ist eine sehr alte und wenig bekannte Geschichte.« Ankil ergriff einen Stiefel, den er geflickt hatte, und spuckte auf das Leder. »Wenn ihr wollt, erzähle ich sie euch. Mir selbst wurde sie von einem alten Mann erzählt, als ich noch ein Junge war, und ich fand die Geschichte so seltsam, dass sie mir all die langen Jahre im Gedächtnis geblieben ist.« Er begann, den Stiefel sorgfältig zu polieren, und setzte gelegentlich dabei ab, um den Glanz zu bewundern; wenn Ankil eine Geschichte zum Besten gab, fing er immer damit an, etwas mit den Händen zu tun. Maerad lehnte sich gemütlich zurück. Sie mochte Ankils Geschichten.
»Einst, vor langen Jahren, als die Zeit noch ein Ei war, bevor oben und unten, vorne und hinten, tief oder breit entstanden, gab es ein Lied. Es gab allerdings keine Stimme, um es zu singen, auch kein Ohr, um es zu hören, und das Lied war einsam im Nirgendwo und Nichts, das alles war. Denn was ist ein Lied ohne eine Stimme und ein Ohr?
Wie ihr wisst, begab es sich, dass die Welt erschaffen wurde. Der Himmel ergoss sich über das Nichts wie ein Ballen blauer Seide, anschließend purzelten die Sterne darüber, als hätte jemand unzählige Juwelen fallen lassen, und darunter entstand aus Fels, Eisen und Feuer die feste Erde. Die Erde liebte den Himmel, und der Himmel liebte die Erde, aber sie konnten einander nicht berühren, so sehr sie es auch versuchten. Und wie sie es versuchten! Beide begannen vor Kummer zu weinen; vom Himmel fiel der erste Regen, und die Erde füllte sich mit Flüssen und Meeren; wo der Regen der Erde Feuer berührte, stieg Dampf auf, der zu Wolken und Nebel wurde, und aus den Wolken und den Nebelschwaden wurden die Elidhu geboren, die ältesten Kinder der Zeit, danach die Bäume und die stummen, stillen Pflanzen der Erde mit all den Blumen gleich Trompeten und den Blättern gleich Leiern. Doch die Elidhu besaßen weder Stimmen noch Ohren.
Nun, sagte sich das Lied, endlich könnte es eine Stimme zum Sprechen und ein Ohr zum Hören geben. Und so kam es aus dem Nichts in das Jetzt und glitt in die Adern der Elidhu, als wäre es ein Schwärm von winzigen Fischlein, die in einen Bach schlüpften, und jeder Elidhu spürte das Lied in sich wie einen Schauder des Lebens, und all die Geräusche der Welt explodierten in ihnen: das Prasseln des Regens, das Rauschen der See, das endlose Seufzen des Windes durch die grünen Bäume. Erstaunt öffneten sie die Münder, und das Lied sprang daraus hervor und wurde endlich es selbst. Und sehr lange Zeit war das Lied glücklich.«
Ankil stellte den Stiefel zu Boden und ergriff einen anderen.
»Nach vielen, vielen Jahren fiel ein Schatten über die Welt. Ein großer Krieg wütete, und so hielt der Tod Einzug auf Erden. Großes Leid kam über alle Geschöpfe: über die Pflanzen, die Tiere, die Menschen und die Elidhu. Aber der Schatten wurde zurückgeschlagen, und
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