Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
getaucht; manchmal besaß die gesamte Landschaft bis hinab zum Meer eine übernatürlich anmutende Klarheit, bei der die Farben gesättigt schienen und jeder Umriss sich scharf und deutlich abzeichnete; manchmal herrschte ein malvenfarbener Dunst vor, durch den man das Meer überhaupt nicht sehen konnte, und die Landschaft wirkte verschwommen, gedämpft und beinahe gespenstisch.
Nach einem leichten Frühstück stürzte Maerad sich in die Arbeit mit Cadvan. Sie begannen den Unterricht in Ankils Küche, wo sie bis Mitte des Vormittags mit Nachdruck arbeiteten, bis Cadvan zu einer Pause aufrief. Maerad nützte diese zumeist für einen einsamen Spaziergang in Richtung der Berge, die als schroffe, in Schnee gehüllte Gipfel über Ankils Weide aufragten. Den höchsten von allen bildete der Lamedon, dessen steile Wände selbst mitten im Sommer häufig Nebel verhing. Als Nächstes folgten abfallend die drei Gipfel des Okinlos, die nackten Felswände des Indserek, so steil, dass kein Schnee an ihnen haftete, und die Spitze des Kyrnos, so schmal, dass sie wie eine Klinge aussah. Hinter diesen hohen Gipfeln drängten sich die Schultern zahlreicher weiterer Berge und bildeten zusammen das Zentralmassiv der thoroldischen Berge. An manchen Morgen herrschte dichter Dunst, wodurch sie zu Maerads Erstaunen völlig verschwanden, als wären sie gar nicht da; oder sie hingen wie Geister am Himmel, sichtbar nur in matten Umrissen, und man konnte sie nur erkennen, wenn man genau hinsah und wusste, dass es sie gab.
Trotz der Sorgen, die sowohl Maerad als auch Cadvan quälten, war es eine friedvolle Zeit. Maerad fühlte sich, als sammelte sie Kraft für einen bevorstehenden Kampf, obwohl sie nicht wusste, wie dieser Kampf aussehen würde. Sie widmete sich mit Hingabe dem Lernen: Mittlerweile beherrschte sie die alphabetische Nelsor-Schrift und war in der Lage, recht achtbar zu schreiben und zu lesen. Auch beim Erlernen der Ladhen-Runen erzielte sie Fortschritte. Dabei handelte es sich um ein vielschichtiges Gefüge tausender Zeichen, die ihre Bedeutung durch geringfügige Ergänzungen und Löschungen aus einem Stamm von ein paar hundert Bildern veränderten. Geschrieben wurden sie als Striche, die man ebenso einfach schnitzen wie mit Tinte zeichnen konnte. Es war ein wenig, als lernte man eine Verschlüsselung, und als ebenso faszinierend erwies es sich. Barden verwendeten diese Schriftzeichen, um einander geheimes Wissen zu vermitteln, indem sie Runen in Bäume oder Steine ritzten, wenn keine andere Form der Mitteilung möglich war.
Cadvan zeigte sich äußerst zufrieden mit ihren Fortschritten in Hoher Magie; nach und nach entwickelte sie die Fähigkeit, ihre Bardenmacht zu beherrschen, wenngleich er sie davor warnte, dass er ihr nicht beibringen konnte, wie sie jene Kräfte einsetzen sollte, von denen er nichts wusste. Um sie von ihrer angeborenen Bardengabe zu unterscheiden, bezeichnete er sie als ihre Elementarkräfte, ob-schon Maerad darauf hinwies, dass die beiden miteinander verflochten waren. »Und warum«, fragte sie ihn eines Vormittags, »ist darüber allgemein nicht mehr bekannt? Ankil sagte, dass sich hier auf Thorold viele Geschichten um Elementarblut ranken - warum weiß niemand etwas über diese Dinge?«
Cadvan musterte sie nachdenklich. »Maerad, ganz ehrlich, ich kann es nicht sagen. Ich habe noch nie von solchen Kräften gehört, wie du sie besitzt. Und wahrscheinlich hast du völlig recht damit, dass sie eng verbunden mit der Bardenkraft sind. Aber du darfst nicht vergessen, dass du die Ausersehene bist und diese verschiedenen Gaben daher in dir auf eine neue Weise verschmolzen sind.«
Maerad dachte eine Weile darüber nach. »Also, ich habe das Gefühl, je mehr ich in der Lage bin, die Bardenkräfte einzusetzen, desto größeren Zugriff erlange ich auf die anderen.«
»Ich habe keine Ahnung, wie du den Kulag oder den Unhold in Annar überwältigt hast«, gestand Cadvan. »Das ist etwas, das die Fähigkeiten von Barden übersteigt. Und ich weiß nicht, wie ich dich dahingehend unterrichten soll - du musst es selbst durch Ausprobieren erlernen. Aber wir sollten zumindest herauszufinden versuchen, ob diese Kräfte beherrschbar sind. Es wäre gewagt, dich nur dann auf die Probe zu stellen, wenn dein Leben in Gefahr ist.« Danach begannen sie mit einigen vorsichtigen Übungen - abseits auf einer benachbarten Weide, damit Maerad nicht versehentlich Ankils Haus beschädigen konnte. Zunächst konnte Maerad ihre Kräfte
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