Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
seine qualvolle Kindheit nicht gelöscht hatte; und dennoch fürchtete sie um ihn, fürchtete, die in ihn gebrannte Schwärze könnte eine Wunde verursacht haben, die nie verheilen würde. Aber, so dachte Maerad voll Inbrunst, sie musste verheilen. Sie selbst könnte sie heilen, wenn sie nur die Zeit dafür eingeräumt bekäme.
Wenigstens wusste sie, dass ihr Bruder am Leben war, und allein dieser Umstand bewirkte, dass sie sich etwas weniger allein auf der Welt fühlte. Denn unabhängig davon, wie viele Freundschaften sie schloss, Maerad fühlte sich nach wie vor zutiefst einsam. Teilweise lag dies an ihrer Bestimmung als die Ausersehene, doch es war mehr als das. Solange sie zurückdenken konnte, war sie immer allein gewesen.
Es war unvermeidlich, dass sich ihre abendlichen Unterhaltungen irgendwann Maerads und Cadvans Suche und dem Rätsel vom Baumlied zuwandten. Ankil hatte sich nie neugierig geäußert, was den Grund dafür anging, dass sie sich in den Bergen versteckten, wenngleich er eindeutig über die jüngsten Ereignisse in Busk Bescheid wusste.
Eines Abends sprachen sie über Maerads Elementarerbe, wofür Ankil brennendes Interesse offenbarte. Maerad zeigte ihm den goldenen Ring, den die Elidhu Ardina ihr geschenkt hatte, dann rannte sie nach oben und holte die Flöte, die sie bei ihrer Begegnung im Wagwald in Annar erhalten hatte. Ankil begutachtete die Flöte eingehend; wie alle Barden war auch er ein Musikant. Er unterließ es, hindurchzublasen. Stattdessen hielt er sie vorsichtig, als könnte sie gefährlich sein.
»Als ich ein Kind war, habe ich auch solche Flöten geschnitzt«, meinte Cadvan. »Ich auch«, sagte Ankil. »Aus Flussreet. Nur Kinder machen solche Flöten. Das ist wie mit jenen Reimen, die Kinder singen: Sie werden ihnen nie von Erwachsenen beigebracht, trotzdem singen sie von Zmarkan bis Turbansk denselben Unsinn.«
Ardinas Antlitz tauchte lebhaft vor Maerads geistigem Auge auf: die wilden, entrückten Züge, die gelben Augen, durchsetzt von einer katzengleichen Regenbogenhaut. Maerad hatte sie sowohl als die ernste Königin von Rachida als auch als die wilde Elidhu erlebt. Wie sie sich nun entsann, hatte beide Erscheinungsformen etwas Kindliches begleitet; vielleicht misstrauten die Barden den Elementaren deshalb so sehr.
»Genau wie ich lesen die Elementare keine Bücher«, erklärte Ankil. »Sie besitzen ihr eigenes Wissen, und ihr Gedächtnis reicht weit zurück. Ich habe selbst mit dem Elidhu Lamedon gesprochen.«
»Tatsächlich?«, fragte Cadvan mit aufflammendem Interesse. »Ich wusste gar nicht, dass er noch mit Menschen spricht.«
Ankil lachte. »Das tut er auch nicht. Aber anscheinend bin ich halb Ziege, halb Adler, weshalb er sich dazu herablässt, mit mir zu reden. Es ist, als ob man sich mit einem Sturm unterhält! Aber er hat mir schon allerlei wissenswerte Dinge mitgeteilt, und gelegentlich, wenn ich betrübt bin, besuche ich ihn.« »Wie erscheint er dir?«, erkundigte Maerad sich neugierig.
»Manchmal erscheint er gar nicht. Dann klettere ich den ganzen Weg hinauf und wieder zurück herunter. Aber wenn er will, erscheint er mir als eine Art Nebel; oder bisweilen spricht er als Adler zu mir, allerdings um einiges größer als die größten thoroldischen Bergadler.«
»Ich bin ganz sicher, dass Barden im Verlauf der Jahrhunderte den Elementaren zu wenig Beachtung geschenkt haben«, meinte Cadvan. »Zu unser aller Gefahr.« »Das denke ich auch«, pflichtete Ankil ihm bei. »Aber nicht viele Barden würden dem zustimmen. Vielleicht ist es hier auf Thorold ein wenig anders; ich glaube, in den Adern vieler Thorolder fließt Elidhu-Blut. Hierzulande gibt es zahlreiche Geschichten über Liebe zwischen Wassergeistern und Menschen oder über Frauen, die sich in die Berge begaben und zehn Jahre später mit einem kleinen Kind mit sonderbaren Augen zurückkehrten.«
»Ich frage mich, ob der Lamedon womöglich etwas über das Baumlied weiß«, dachte Maerad laut nach.
»Tja, in der Bibliothek von Busk ist jedenfalls nichts darüber zu finden.« Cadvan vollführte eine ungeduldige Geste. »Wochenlang habe ich umsonst uralten Staub eingeatmet.«
»Das Baumlied?«, hakte Ankil nach.
»Wir sollen es finden«, erklärte Maerad.
Sie verspürte keine Zweifel, Ankil zu vertrauen, und so begann sie die Geschichte ihrer Suche zu schildern. Ankil lauschte aufmerksam und zog dabei die buschigen Brauen zusammen. Cadvan saß indes schweigend, mit nachdenklicher Miene da.
»Hmmm«,
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