Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
beunruhigte sie; zwar konnte sie Elenxis Gründe nachvollziehen, gleichzeitig jedoch widerstrebte ihr das unumstößliche Urteil, das aus seinen Zügen sprach. Schließlich war es nur allzu einfach, Fehler zu begehen, und sei es aus den bestgemeinten Gründen. Wer wusste schon, was falsch und was richtig war?
»Mitleid ist nie vergeudet«, meinte Cadvan leise. »Selbst die schlimmsten Menschen verdienen Mitleid. Sogar der Namenlose ist ein bemitleidenswertes Geschöpf.«
Elenxi bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Vielleicht. Ich will die Weisheit des Gleichgewichts nicht in Frage stellen. Aber trotz allem hat dieser Mann euch und uns für Gold verraten. Daran finde ich nicht viel bemitleidenswert.«
»Wie immer man dazu stehen mag, es stimmt, dass es Spitzel gibt und Norloch Eure Anwesenheit hier vermutet«, sagte Nerili. »Deshalb müsst ihr so bald wie möglich aufbrechen. Elenxi wird euch nach Nisa führen, danach müsst ihr weiter nach Gant. Gahal erwartet euch und wird euch sagen können, wie ihr am besten weiter nach Norden gelangt. Ich selbst rate euch trotz der Gefahren zum Seeweg entlang der Küste. Ich denke, Annar zu durchqueren wäre noch gefährlicher.« Nachdenkliche Stille kehrte ein.
»Hast du in der Bibliothek gesucht?«, fragte Cadvan schließlich und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
»Das habe ich«, erwiderte Nerili. »Ich habe sie von oben bis unten durchstöbert und die gelehrtesten Bibliothekare befragt. Dennoch konnte ich nichts finden, was euch helfen könnte.«
»Es wird nichts Niedergeschriebenes geben«, meldete sich Ankil zu Wort, der bisher schweigend dagesessen und der Unterhaltung aufmerksam gelauscht hatte.
»Wahrscheinlich nicht«, meinte Nerili und bedachte ihn mit einem neugierigen Blick. »Es würde mich überraschen, Cadvan, wenn du in den anderen Bibliotheken etwas findest.«
»Nelac hatte etwas über das Baumlied gelesen«, warf Maerad ein. »Also muss es irgendwo etwas Schriftliches darüber geben.«
»Die Stelle, die er fand, war äußerst undeutlich«, schränkte Cadvan ein. »Aber ich glaube, Ankil hat recht.« Er berichtete Nerili und Elenxi vom Geteilten Lied, und die beiden lauschten gespannt. »Das ist der beste Hinweis, auf den wir bislang gestoßen sind«, beendete er seine Ausführungen.
»Sucht nicht an einem Maulbeerbaum nach Nüssen«, mahnte Ankil. »Ich denke, ihr müsst euch vom Reich des Geschriebenen abkehren und dem Reich des Erinnerten zuwenden.«
Maerad spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Tief in ihrem Innersten war sie sicher, dass in Ankils Worten etwas Wahres lag. Auch Maerad hatte das Schreiben erst spät erlernt; bis zu jenem Frühling hatte sie von der Schriftsprache keine Ahnung gehabt, und so wie Ankil fühlte sie sich mündlichen Überlieferungen näher als die meisten Barden.
»Vielleicht verwahrt man dieses Wissen im Norden«, sagte sie. »Und vielleicht müssen wir deshalb dorthin. Um mit jemandem zu reden.«
»Ja«, pflichtete Cadvan ihr bei. »Aber mit wem?«
Darauf wusste niemand eine Antwort, und Nerili wechselte das Thema. »Die Gesandten kehrten nicht nur mit schlechter Kunde heim«, erklärte sie. »Einer brachte etwas für euch beide mit.« Damit fasste sie in ihre Brusttasche und holte einen versiegelten Brief hervor. »Das hier stammt von Saliman von Turbansk.« Maerad stieß einen verzückten Schrei aus und griff nach dem Brief, womit sie Cadvan zuvorkam, der ebenfalls gerade die Hand danach ausstrecken wollte. Er bremste sich und lehnte sich zurück, obwohl er eindeutig ebenso ungeduldig wie Maerad darauf harrte zu erfahren, was der Brief enthielt. Maerad betrachtete neugierig das Siegel; es wies das Zeichen der Schule von Turbansk auf - eine von Flammen umgebene Sonne. Dann brach sie es mit dem Fingernagel und entfaltete das Pergament. Der Brief war in Salimans deutlicher, geübter Handschrift verfasst.
»Lies ihn uns laut vor, Maerad«, forderte Cadvan sie auf.
Maerad zögerte kurz, dann begann sie langsam zu lesen. Dabei tauchte Salimans reges, lachendes Gesicht lebhaft vor ihrem geistigen Auge auf.
»Hier steht: >Maerad, Cadvan - seid gegrüßt, meine Freunde! Ich schreibe in Eile, da der Gesandte aus Thorold noch in dieser Stunde aufbrechen möchte. Jedenfalls war ich unsagbar froh zu erfahren, dass ihr wohlbehalten in Thorold eingetroffen seid. Meine Gedanken haben euch jeden Tag begleitet, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und keine Neuigkeiten zu hören ist hart,
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