Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
die Finsternis ist, innerlich wie äußerlich. Vielleicht verzeiht sie Cadvan jetzt etwas… Doch es fühlte sich ungehörig an, weitere Mutmaßungen anzustellen, und das war ihr letzter bewusster Gedanke, bevor sie in einen traumlosen Schlaf versank. Sie standen vor Sonnenaufgang auf. Nebel hing zwischen den Kiefern und Lärchen, die sich in lichtem Bewuchs die Hügel hinaufzogen. Sie sattelten und beluden die Pferde, die sie vor fast einem Monat in Velissos zurückgelassen hatten. Nachdem sie gepackt hatten, nahmen sie ein rasches Frühstück ein. Nerili, bereits in Stiefel und für die eigene Reise nach Busk gekleidet, verabschiedete sich im Schankraum der Taverne von Maerad und Cadvan. Das lange, dunkle Haar floss ihr auf die Schultern hinab.
»Ich will euch nicht aufhalten«, meinte sie in düsterem Tonfall und küsste sowohl Cadvan als auch Maerad förmlich auf die Stirn. »Ich schicke euch mit all unserem Segen und all unseren Hoffnungen eurer Wege. Nur ihr, das spüre ich in meinem Herzen, könnt dieses sonderbare Rätsel entwirren. Unterwegs werdet ihr Hilfe finden, vermutlich dann, wenn ihr sie am wenigsten erwartet, aber auch allerlei Gefahren. Möge das Licht euch beschützen!«
»Und dich ebenfalls«, sagte Cadvan. Er stellte sein seltenes, strahlendes Lächeln zur Schau und küsste Nerilis Hände. »Noch ist nicht alles finster, Nerili. Und obschon wir durch unzählige Gefahren wandern werden, begleitet uns der Segen all derer, die uns ihre Freundschaft und Liebe entgegengebracht haben. Das ist allerorts ein Schild vor der schlimmsten Verzweiflung, selbst in den Verliesen des Namenlosen.«
Maerad vermeinte, eine leichte Röte in Nerilis Wangen steigen zu sehen, wenngleich die Oberste Bardin sich so stolz wie zuvor gebarte. »Das erscheint mir etwas hochtrabend für meinen bescheidenen Segen«, entgegnete sie, »aber wenn du meinst, dass dem so ist, dann wird es stimmen. Schließlich bist du schon in solchen Verliesen gewesen, ich nicht.«
Nerili drehte sich Maerad zu. »Ich gebe euch außer dem Segen Thorolds keine Geschenke mit«, sprach sie. »Ich möchte euch nichts aufbürden. Gute Reise!« »Die Geschenke, die du uns bereits gemacht hast, sind mehr als genug«, erwiderte Maerad. »Möge das Licht deinen Weg erhellen.« Ein Kloß im Hals überraschte sie; hastig wandte sie sich ab und ging zur Tür, wo Elenxi bereits ungeduldig wartete. Sie schwangen sich auf die bereit stehenden Pferde, und bald verbargen die Hügel das Dorf Velissos hinter ihnen.
Den ganzen Tag folgten sie dem Pfad, der westwärts aus dem Dorf führte. Die Schatten vor ihnen wurden kürzer und kürzer, bis sie zu schwarzen Tümpeln unter den Bäuchen der Pferde schrumpften, dann streckten sie sich langsam hinter ihnen aus, während sie in die langen, schräg einfallenden Strahlen der sinkenden Sonne blinzelten. Ihr Weg führte sie in immer höhere Regionen, die sich als fast gänzlich unbewohnt erwiesen. Nur an ein paar abgeschiedenen Katen kamen sie vorbei. Der Pfad schlängelte sich schwindelerregend durch eine mit niedrigem Strauchwerk bewachsene Landschaft, übersät mit riesigen flechtenüberzogenen Felsblöcken und Geröll aus kleineren Steinen. Für jene fruchtbare Insel wirkte die Gegend ungewöhnlich trostlos.
»Wir nennen diesen Ort die Gebeine, I Lanik in der Sprache der Insel«, erklärte Elenxi, als er ein Feuer für ihr Nachtlager anzündete. »Hast du heute einen Bach gesehen?«
Maerad dachte nach und stellte fest, dass sie verneinen musste.
»Durch eine Tücke der Hügel ergießen sich alle Bäche über die anderen Hänge der Rücken hinab. Und es gibt keine Quellen. Das einzige Wasser in dieser Gegend fällt vom Himmel. Es heißt, dass der Geist dieses Ortes vor langer Zeit den Lamedon verärgerte und durch die Verbannung allen Wassers bestraft wurde.«
Ungeachtet dessen fand Maerad am nächsten Tag, dass diesem hungrigen Land eine sonderbare Schönheit anhaftete. Die kahlen Felsen wiesen einen üppigen Farbenreichtum auf, von Malvenfarben und Rosa über Purpur bis hin zu Weiß, und das Licht spiegelte sich auf ihnen in bemerkenswerter Weise. Gegen Nachmittag gelangten sie in ein breites Tal. Zu beiden Seiten ragten steil die schneebedeckten Gipfel des Zentralmassivs von Thorold auf. Zum ersten Mal seit über einem Tag hörte Maerad Wasser gurgeln; kleine Bächlein stürzten die Seiten des Tals herab und flössen schließlich zusammen, um einen breiten, flachen Fluss zu bilden, der in einem Bett aus
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