Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
bereits so nahe befand. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er gerufen, sobald er in Reichweite geriet. Dieses Verhalten zeugte von unüblicher Vorsicht.
Gehtes dir gut?, fragte Hem, während ihn Erleichterung durchströmte. Ja, antwortete die Krähe knapp. Aber ich fliege dort nicht mehr hin. Nie wieder. Sei leise, es kommen noch mehr.
Sie hörten sich nähernde Schritte, das Knacken von Zweigen und das Rascheln von Gras, dann gerieten nur wenige Spannen entfernt vier Kinder in Sicht. Ihre Gesichter waren zerkratzt und blutig, und der Arm eines Jungen - Hem schätzte ihn auf etwa elf Jahre - hing nutzlos an seiner Seite.
Zelika sog scharf die Luft ein, dann sprang sie, bevor Hem etwas Sinnvolles unternehmen konnte, aus ihrem Versteck hervor ins offene Gelände. Als sie hinaushechtete, griff er nach ihr, doch ihr Mantel entglitt seiner Hand. Hem taumelte und spürte, wie sein Glimmerschleier sich zum Zerreißen spannte; verzweifelt flüsterte er ein Wort, um ihn zu stärken, während er sich in geduckte Haltung kauerte, als wollte er Zelika folgen, doch etwas hielt ihn davon ab. Stattdessen beobachtete er vor Schreck erstarrt, wie Zelika mit gezogenem Kurzschwert auf die Seite der kleinen Lichtung zustapfte, wo sich die vier Kinder befanden.
Die Kinder drehten sich in unheimlich anmutendem Einklang um und brachten blitzschnell die Waffen in Anschlag. Aus ihrer Sicht musste es gewirkt haben, als wäre Zelika aus dem Nichts hervorgeplatzt; sie konnten sie erst gesehen haben, als sie die Grenzen des Glimmerschleiers durchbrach. Dennoch wirkte keines der Kinder überrascht; ihre Mienen blieben ruhig und ungerührt.
Sie hat den Verstand verloren, zischte Irc in seinem Geist. Hol sie zurück, diese Menschen sind nicht richtig, sie werden sie in Stücke reißen.
Wie soll ich sie jetzt noch zurückholen?, gab Hem zurück. Er stieß einen Fluch aus und spürte, wie ihm am ganzen Körper kalter Schweiß ausbrach.
»Nisrah!«, rief Zelika. Sie erreichte den verwundeten Jungen und schüttelte ihn heftig, doch statt zusammenzuzucken, starrte er sie nur mit ausdrucksloser Miene an. »Nisrah, ich bin’s, Zelika!«
Die anderen Kinder umringten sie und zückten die Waffen, griffen sie jedoch vorläufig nicht an. Zelika zog den Jungen an ihre Brust und hielt sich die anderen mit dem Schwert vom Leib. Sie murmelte dem Knaben ins Ohr, behielt wachsam die anderen im Auge und wich zurück.
»Komm mit, Nis. Sofort. Wir verschwinden von hier.«
»Das ist nicht mein Name. Ich weiß nicht, wer du bist.« Seine Stimme erklang heiser und tonlos, dennoch regte sich tief in seinen Augen so etwas wie Erkennen.
»Dein Name lautet Nisrah, du bist mein Bruder, und du bist verhext. Hör auf damit, hör sofort auf damit. Und ihr … « Zelika stieß mit dem Schwert in die Richtung der anderen Kinder. »Ihr seid auch alle verhext. Bleibt stehen. Sofort.«
Zelika sprach mit so entfesselter Inbrunst, dass die Kinder tatsächlich innehielten, und einen Herzschlag lang verzogen ihre Gesichter sich unter einem plötzlichen Anflug von Gefühlen, von unerträglichem Schmerz. Einen wilden Augenblick dachte Hem, der das Geschehen von seinem Versteckt aus mit Grauen beobachtete, Zelika könnte die grässliche Hexerei tatsächlich durchbrechen, unter deren Bann die Kinder standen: Sie loderte vor einer Art Wahnsinn, die so einschüchternd war wie jede Magie. Sie zog Nisrah einen weiteren Schritt zurück. Er stolperte und schrie auf, als sie ihm den verwundeten Arm verdrehte, und der Augenblick der Hoffnung verstrich. Das Gefühl, das Zelika in den Kindern wachgerüttelt hatte, bündelte sich zu einem Ausdruck mordlüsterner Wut. Nisrah riss sich so heftig aus Zelikas Griff los, dass sie beinah stürzte. Er hatte keine Waffe; sein Schwertarm war verwundet. So schlug er Zelika mit der unversehrten Faust ins Gesicht. Sie ging in die Knie; nicht so sehr durch die Wucht des Schlages, vermutete Hem, da dieser nicht besonders kraftvoll gewesen war, sondern eher durch die Geste an sich. Der Junge trat von ihr weg, und als Zelika sich auf ihn zubewegte, um ihn wieder zu packen, hob er die Faust.
»Nisrah!« In dem Schrei schwang solch verzweifelte Pein mit, dass Hem unwillkürlich die Augen schloss; er konnte ihn nicht ertragen. »Nein!«
»Sie ist ein Spitzel«, zischte ein Mädchen, dessen dreckiges Haar vom Kopf abstand und das einen Speer in der Hand hielt, der zu schwer für den zierlichen Körper wirkte, wenngleich das Mädchen keine Mühe zu haben
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