Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
fortgebracht worden war, hatte Hem wie erstarrt dagelegen, während die Abenddämmerung in die Nacht überging. Irc war irgendwann, nachdem die letzten Schritte verhallt waren, zum Versteck zurückgekehrt, doch er hatte geschwiegen und nicht einmal um etwas zu essen gebettelt. Stattdessen kroch er dicht zu Hem, schmiegte sich mitten an dessen Brust und gurrte vor Mitgefühl mit dem unaussprechlichen Elend des Jungen.
Gegen Mitternacht setzte Hem sich auf. Er öffnete sein Bündel, holte etwas zu essen hervor und teilte es mit Irc, der lustlos fraß, sich danach ein Plätzchen suchte und einschlief. Hem war Schlaf nicht vergönnt. Er starrte stundenlang ins Leere und dachte nach.
Nüchtern betrachtet war durchaus möglich, dass Zelika inzwischen tot war. Allerdings schien es unwahrscheinlich: Wenn man sie für einen Spitzel hielt, was sie auch war, würde man versuchen, alles Wissen aus ihr herauszupressen. Und wie Hem nun klar wurde, wusste Zelika eine ganze Menge. Das wahre Ausmaß der Katastrophe ihrer Gefangennahme entfaltete sich in seinem Verstand. Ein Untoter konnte ihr Gedächtnis zerpflücken wie ein Geier einen Kadaver. Sie würden von Nal-Ak-Burat erfahren, von Hared, von den Hoffnungen und Befürchtungen des Widerstands. Sie werden von mir erfahren, dachte Hem mit einem Anflug von Panik. Wurde man einem Seelenblick unterzogen, gab es keine Möglichkeit, etwas zu verbergen.Hem schauderte beim Gedanken an eine solche Schändung, bei der Vorstellung, wie es sich anfühlten müsste, einen Untoten in seinem Kopf zu haben, der durch seine innigsten Geheimnisse wühlte; doch er schob den Gedanken beiseite. Mit Kummer und Bedauern war er fertig. Die Frage lautete: Was sollte er nun tun?
Er sollte Hared Bericht erstatten und ihm mitteilen, was geschehen war. Aber er konnte ohne Zelika nicht weggehen. Der Gedanke formte sich nüchtern, wie eine Entscheidung, die er bereits getroffen hatte, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Er musste Zelika zurückholen. Und er musste in Erfahrung bringen, was der Untote herausgefunden hatte.
Sie werden von mir wissen. Wenn ich mich zeige, werden sie wissen, wer ich bin. Hem betrachtete seine Arme. Durch sein dunkles Haar und seine olivfarbene Pilanel-Haut wäre denkbar gewesen, dass man ihn für einen Baladher gehalten hätte, wenn er nicht die vergangenen Wochen unter der Erde verbracht hätte. Dadurch war er blass geworden, zu hell für Suderain. Seine Sprachkenntnisse reichten mittlerweile, um eine einfache Unterhaltung zu führen, ohne aufzufallen, würden einer tieferen Überprüfung jedoch nicht standhalten.
Er dachte an den Tarnbann, den Saliman ihm während einiger müßiger Stunden in Turbansk beigebracht hatte. Laut Saliman handelte es sich um einen besonderen Zauber Cadvans, der selbst Bardenaugen zu täuschen vermochte. Der Bann war kaum bekannt, und nur wenige Barden waren in der Lage, ihn zu meistern; er war zeitraubend, erschöpfend und von begrenzter Dauer, wenn Hem sich also mehrere Tage damit tarnen wollte, würde er ihn regelmäßig erneuern müssen. Aber vielleicht gelänge ihm eine vereinfachte Fassung, die weniger ermüdend war als eine vollständige Verwandlung seiner selbst: ein paar leichte Veränderungen seiner Gesichtszüge, braune Augen statt blaue, feinere Wangenknochen und dunklere Haut. Hem war schlank, aber er könnte sich noch etwas dünner machen, damit er aussähe, als wäre er seit Wochen halb am Verhungern. So konnte es vielleicht klappen.
Er wusste, wie er sich abzuschirmen hatte, um den verräterischen Schimmer zu verbergen, an dem sich Barden gegenseitig erkannten. Wenn er für ein gewöhnliches Kind aus Suderain gehalten werden wollte, würde er sich so umfassend tarnen müssen, dass niemand auch nur den geringsten Hauch des Bardentums in ihm vermuten würde, und er würde jenen Schutzschild die ganze Zeit aufrechterhalten müssen. Es würde ein äußerst ermüdendes Unterfangen sein, aber vielleicht nicht unmöglich. Seine Jahre im Waisenhaus hatten ihn Selbstdisziplin und Wachsamkeit gelehrt.
Langsam, planvoll durchdachte er die Einzelheiten dessen, was er tun könnte, und wog die Gefahren seines Planes ab. Ihm schauderte davor, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn man ihn erwischen sollte. Andererseits wusste er mit inniger Überzeugung, dass er Zelika nicht den Untoten überlassen konnte. Ein vielschichtiges Schamgefühl, weil er nur zugesehen hatte, wie sie gefangen genommen wurde, durchdrang wirbelnd all seine Gedanken -
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