Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
inneren Schild völlig vergaß, bis er entsetzt erkannte, dass er ihn zum ersten Mal seit seinem Eintreffen inSjug’hakar Im schwächer werden lassen hatte. Hastig stellte er ihn wieder her und verfluchte sich dabei. Trotz seines körperlichen Elends schlief Hem danach fast sofort ein. Als er die Augen aufschlug, starrte er geradewegs in das Muster aus Blättern und Himmel hoch über seinem Kopf, aber irgendetwas wirkte verändert. Er setzte sich auf und stellte fest, dass er zwar sehr wohl in einem Wald weilte, allerdings einem gänzlich anderen als während jenes Albtraums in den Glandugir-Hügeln. Durch leise Musik, die in seinem Verstand widerhallte, wusste er sofort, dass er sich in Nyanars Heim befand. Irgendwie wusste Hem, dass dies einer der bewaldeten Hügel war, die er in der Ferne vom Stamm des großen Baumes aus gesehen hatte. Das mittlerweile vertraute Gefühl tiefer Zufriedenheit stieg in ihm auf wie Saft in einem Baum, der dem Frühlingshimmel entgegen strömt.
Wieder herrschte Sonnenaufgang, und von jedem Baum zwitscherten Vögel ihre morgendlichen Lockrufe. Lichtstrahlen drangen durch den Baldachin hoch über Hem und erhellten bald ein Grüppchen Pilze, bald grünes Farn. Der Geruch von Erde und verrottenden Blättern stieg üppig und durchdringend auf. Die Bäume waren so alt und hoch und ihre Wipfel so dicht, dass auf dem Boden darunter nur vereinzelt Pflanzen wuchsen. Hem konnte weit schauen, einen Hang hinab in ein Tal, in dem ein kleiner Bach unter einem Band aus Grün gurgelte.
Obwohl Hem feuchte Schatten sah, die das Sonnenlicht nicht zu durchdringen vermochte, gräulich vor schwerem Tau, verspürte er keine Kälte; stattdessen kroch eine wohlige Wärme durch seinen Körper, als säße er vor einem heimeligen Ofen. Auch die entsetzliche quälende Übelkeit war von ihm abgefallen, die sich mit jedem Schritt gesteigert hatte, den er weiter in die Glandugir-Hügel vorgedrungen war. Dieser Wald war unberührt.
Unverderbt, sprach Nyanars Stimme.
Hem sah sich um, erblickte jedoch nur die Bäume.
Wo bin ich ?, fragte er.
Wo du immer gewesen bist, antwortete Nyanar. Du bist zu anderer Zeit dort. Mit einem Ruck, der seinen gesamten Körper durchlief, verstand Hem endlich. Nicht wo, sondern wann. Er befand sich in den Glandugir-Hügeln, aber so, wie sie gewesen waren, bevor der Namenlose sie vergiftet hatte - bevor sie von der Krankheit entstellt wurden, die dieses Land befallen hatte.
Wie …? Hem konnte die Frage nicht vollenden. Ein unaussprechlicher Kummer ob der Verstümmelung dieses wunderschönen Ortes schnürte ihm die Kehle zu. Er dachte an die Bedrohung, die von den Bäumen von Glandugir nun ausging, an die Kreaturen, die sie bewohnten, und stellte fest, dass ihm plötzliche Tränen die Sicht verschwimmen ließen.
Du weißt, wie, sagte der Elidhu. Die Einzelheiten spielen keine Rolle. Das Lied wurde gestohlen, und vieles wurde verderbt. Hem nickte traurig.
Die Zeit ist nicht, wie ihr sie kennt, ihr sterblichen Kreaturen, fuhr der Elidhu fort. In seiner Stimme schwang ein neues Mitgefühl mit, als wüsste er, was Hem empfand. Ihr denkt, dass die Zeit sich vorwärtsbewegt wie ein Fluss und dass ihr auf seiner Oberfläche glitzernde Wellen seid, die mit ihm vorwärtsfließen, niemals zurück. Für uns hingegen ist sie ein Meer, und alle Zeiten bestehen nebeneinander. Nichts ist wahrhaftig verschwunden … Sei nicht traurig.
Hem nickte und spürte, wie sein Kummer sich auflöste. Ihm war klar, dass er zurückkehren würde, doch vorerst fühlte er sich rundum glücklich in der seltsamen Gegenwart, in der er weilte. Doch der Elidhu sprach weiter.
Ich habe dich hierhergebracht, damit du dich ausruhen kannst, sagte er. Aber über diesen Punkt hinaus kann ich dir nicht helfen. Du marschierst aus meinem Hoheitsgebiet, aus meinem Heim, in den Hort der Finsternis. Sei vorsichtig, Liedjunge. Erinnere dich daran, was immer in den Winden der Zeit gesprochen wird. Ich werde deine Rückkehr erwarten.
Dann verschwand die Stimme so schnell, wie sie erklungen war. Hem lehnte sich an den Stamm des nächsten Baumes undstarrte den Hang vor ihm hinab. Wie immer, wenn er das Reich des Elidhu betrat, nahm er fraglos hin, was sich ihm offenbarte. Er dachte nicht darüber nach, was Nyanar gesagt hatte. Er dachte an gar nichts, ließ nur den tiefen Frieden des Waldes in sich einsickern. Ein paar Schritte entfernt tänzelte ein riesiger, himmelblauer Schmetterling unsicher auf einem Sonnenstrahl. Seine
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