Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
geringsten Verdacht gehegt, dass er nicht der sein könnte, der zu sein er behauptete. Hem hatte gewusst, dass Nisrah ein Bluthund war, doch ihm war nie der Gedanke gekommen, dass der Geistschimmer, den er gespürt hatte, jener von Zelikas Bruder sein könnte. Er hatte die eigene Unsicherheit seinen mangelnden Fähigkeiten und der verschleiernden Wirkung der Hexerei zugeschrieben. Und doch war es nun so offensichtlich.
Unaussprechliches Leid hatte er erduldet, sich durch die Gefahren der Glandugir-Hügel und Den Ravens gekämpft und sich schließlich selbst inDagra eingekerkert. Er hatte sich, Irc und Hared in Gefahr gebracht. Vielleicht würde er Maerad oder Saliman nie wiedersehen. Und alles umsonst.
Hätten in Hem noch Tränen gesteckt, er hätte geweint, doch er fühlte sich zu betäubt für Tränen. Eine erstickende Verbitterung verzehrte ihn.
Schließlich rüttelte ihn ein so lauter Donnerschlag wach, dass er vermeinte, der Boden erzittere unter seinen Füßen. Hem beugte sich vor und fesselte Nisrahs Hände behutsam hinter den Rücken. Dafür verwendete er die in Sjug’hakar Im gestohlenen Lederriemen, die er zu einer Leine formte. Dann hob er den Jungen hoch, wobei er vor Anstrengung das Gesicht verzog. Er traf keine bewusste Entscheidung, Nisrah mitzunehmen; Hem empfand es nicht so, als hätte er eine andere Wahl. Schließlich konnte er ihn nicht einfach wie die Kinder im Blinden Haus einem schrecklichen Schicksal überlassen.
Der Junge rührte sich nicht. Abgezehrt von seinem harten Leben erwies er sich als unerwartet leicht, zudem fühlte sein Körper sich unnatürlich heiß an. Hem schwang ihn sich über die Schulter, stapfte auf die Tür zu und wartete einen Augenblick, um sich zu vergewissern, dass draußen keine Wachen warteten. Die Kaserne schien eigenartig verwaist. Leise entriegelte er die Tür und verließ den Raum.
Er gelangte in einen leeren, von flackernden Fackeln erhellten Gang mit einer Holztreppe am fernen Ende. Als Hem die Treppe erreichte, folgte ein weiterer, lang gezogener Donnerschlag, und Hem stützte sich an der Wand ab, fühlte, wie das Gebäude unter seinen Füßen erbebte. Vielleicht würde es ein Erdbeben geben. Zudem stand ein Sturm der Finsternis unmittelbar davor, über seinem Kopf loszubrechen. In plötzlicher, panischer Eile stolperte er die Treppe hinab. Der Donner übertönte das Geräusch seiner Schritte. Als er in die Eingangshalle gelangte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass sie nicht bewacht wurde. Wo steckten die Untoten? Er hielt nicht inne, um darüber zu mutmaßen. Stattdessen wankte er auf die Tür zu und zerrte daran. Sie war abgeschlossen.
Hem schlug alle Vorsicht in den Wind, sprengte das Schloss mit Magie von der Tür und rannte hinaus auf die Straße, als wären ihm Untote dicht auf den Fersen. Im Zickzack bog er um mehrere Ecken, bis er eine menschenleere Gasse betrat, in der er schließlich anhielt, sich an einem verfallenden Eingang abstützte und nach Luft rang. Er legte Nisrah zu Boden und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Mittlerweile wirkte der Junge nicht mehr so leicht. Hems Rücken brannte vor Anstrengung, und seine Beine zitterten. Er könnte ihn nicht den ganzen Weg aus Dagra hinaus tragen, selbst wenn er wüsste, wohin er sich wenden musste, und er glaubte kaum, dass der Junge ihn freiwillig begleiten würde. Vergeblich sehnte er sich nach etwas Medhyl, der ihm zusätzliche Kraft verliehen hätte. Was sollte er tun? Aus der Kaserne mochte er entkommen sein, aber er befand sich nach wie vor im größten Kerker, den er je gesehen hatte. Und er hatte sich völlig verirrt.
Hem schaute zum Himmel auf. Die Sonne ging gerade unter; die schräg zur Erde scheinenden Strahlen leuchteten unter einem zerfransten Wolkensaum hervor, sodass die sich verdichtende Luft blutbefleckt wirkte. Die schmale Gasse, in der Hem stand, war in tiefe Schatten getüncht. Unzählige zuckende Blitze erhellten die wirbelnden Dämpfe, die den Ehernen Turm umströmten wie fiebrige Adern. Windstöße stieben vereinzelt den Unrat auf, der die Straße übersäte. Hems Haut kribbelte vor all der hexerischen Kraft ringsum, aber zum ersten Mal, seit er Dagra betreten hatte, fühlte er sich klein und unbedeutend. Das Gefühl der Wachsamkeit war verschwunden, als weilte die volle Aufmerksamkeit allen in das Geflecht der Stadt verwobenen Bewusstseins an einem anderen Ort. Das Donnergrollen ertönte mittlerweile fast durchgehend, und die Erde bebte unter seinen
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