Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
gegen die Wand am Fenster und landete unweit von Irc. Es schreckte die Krähe aus ihrem benommenen Grauen hoch, und Irc starrte mit einem plötzlichen wilden Verlangen darauf. Es handelte sich unverkennbar um einen kostbaren Gegenstand, einen sehr kostbaren. Einen Augenblick zögerte er, dann hopste er aus dem Sack hervor. Mit zwischen den Schultern vorgestrecktem Hals huschte er über den Boden auf den Anhänger zu, packte die Kette mit dem Schnabel und sprang mit aller Kraft auf die Fensterlaibung zu. Wie ein Pfeil schoss er hinaus, flüchtete um sein Leben und schaute nicht zurück, nicht einmal, als der Turm selbst zu kreischen begann und grünes Feuer rings um ihn explodierte, ihm das Gefieder versengte und ihn auf die einstürzenden Türme der Stadt Dagra hinabfallen ließ, wo in den Straßen eine grässliche Schlacht tobte.
Irc wollte nicht darüber reden, was sich zwischen seiner Flucht aus dem Ehernen Turm und seinem Treffen mit Hem zugetragen hatte, obwohl Hem ihn fragte, ob er die schrecklichen geflügelten Wesen gesehen hatte, die am Tor aus der Luft erschienen waren. Ein Teil von Hem fragte sich immer noch, ob er diese Kreaturen nur geträumt hatte. Das Einzige, was Irc noch preisgab, war,dass er gedacht hatte, sterben zu müssen. Aber ich bin nicht gestorben, fügte er hinzu und plusterte das Gefieder auf. Weil ich eine kluge Krähe bin.
Als Irc seine Geschichte beendet hatte, holte Hem die Kette unter seinem Kittel hervor und betrachtete den Anhänger nachdenklich. Er war aus Messing geschmiedet, ein seltsames, gegabeltes Ding, das keinen offensichtlichen Zweck zu erfüllen schien. Gehörte es Sharma? Aber weshalb sollte der Namenlose einen solch bescheidenen Gegenstand um den Hals tragen? Ob es sich um eine Art Andenken handelte, um etwas, das ihn an seine verschwundene Menschlichkeit erinnerte? Doch das schien äußerst unwahrscheinlich.
Er betrachtete den Anhänger eingehender und erkannte, dass er mit Runen überzogen war, die er nicht zu lesen vermochte. Ein argwöhnisches Kribbelnbewog ihn, den Anhänger wieder unter seinen Kleidern zu verbergen. Er sah gewöhnlich aus, aber tiefere Sinne verrieten ihm, dass er damit nicht leichtfertig umgehen sollte. Hem wollte später, nach ihrer Flucht, darüber nachdenken.
Rückkehr
Alleine kamen Hem und Irc wesentlich schneller voran als Tausende Bluthunde, doch sie fühlten sich beide sehr müde. Zudem musste Hem all sein Essen stehlen. Zumeist plünderte er bestellte Felder, an denen sie unterwegs vorbeikamen, aber einmal gelang es ihm, in ein Lagerhaus einzubrechen, aus dem er ein paar harte runde Brote und Räucherfleisch mitnahm. Er füllte sein Bündel damit, und danach plagte ihn kein solcher Hunger mehr.
Sie reisten mit äußerster Vorsicht durch Den Raven, schliefen bei Tag und wanderten bei Nacht. Die Tage waren mittlerweile sehr kurz, was ihnen zugutekam. Der Himmel blieb klar, doch in den Nächten herrschte Frost. Hem verbarg sich mit starken Schattenlabyrinthen und Glimmerschleiern und mied Straßen, Dörfer und Ortschaften. Er empfand es als Erleichterung, dass er den Tarnbann nicht mehr ständig zu erneuern brauchte. Das war eine der kräfteraubendsten Begleiterscheinungen seines Daseins als Bluthund gewesen. Nun war er wieder er selbst und konnte sein eigenes Gesicht tragen. Irc unternahm Kundschaftsflüge und führte Hem über die sichersten Wege. Er meldete Anzeichen von Aufruhr und Verwirrung in ganz Den Raven. Allerdings schien binnen weniger Tage wieder Ordnung einzukehren. In einer Ortschaft hatte Irc eine Massenhängung gesehen, in einer anderen waren zahlreiche Gefangene in Fußfesseln durch die Straßen gestapft, beobachtet von einer verdrießlichen Bevölkerung. Dann muss jemand gewonnen haben, meinte Hem. Glaubst du, es war Imank?
Irc wusste es nicht. Hem grübelte tagelang über die Frage nach und ärgerte sich darüber, dass er nicht selbst losgehen und es herausfinden konnte. Irc verstand zwar die Hohe Sprache, die auch die Untoten verwendeten, aber Hem weigerte sich, ihm zu erlauben, sich in die Nähe von Untoten zu begeben. Er traute sich nicht, weitere unnötige Wagnisse einzugehen. Sie hatten beide bereits zu sehr auf ihr Glück gesetzt und waren mit Müh und Not mit dem Leben davongekommen.
Eines Morgens kehrte Irc von einem seiner Kundschaftsflüge mit einer Schriftrolle zurück, die an das Tor zum Haus eines Grin in einem Dorf genagelt gewesen war; er hatte einen Mann beobachtet, der sie laut vorlas, und viele
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