Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
sich, und auf dem Übungsgelände wucherte bereits hohes Gras. Hem ging durch das Tor und sah sich um: Nichts war mehr hier. Schon bald würde dieser Ort von der Wildnis zurückgefordert werden. Kriechpflanzen würden über die Zäune klettern und sie einreißen, die Hütten würden einstürzen und verrotten. Es würde kein Anzeichen all des Leids übrig bleiben, das sich hier zugetragen hatte.
Hem drehte sich um und verließ das Lager. Er folgte der Straße ein kleines Stück, dann begann er, die Hänge zu erklimmen, um sich dorthin zu begeben, wo er mit Zelika beim Beobachten von Sjug’hakar Im gelagert hatte. Irgendwie konnte er trotz seiner Erschöpfung nicht aufhören zu gehen; es war, als hätten seine Beine vergessen, wie man stehen blieb. Er hatte sein Ziel beinah erreicht, als jemand seinen Namen rief. Hem brauchte kurz, um zu begreifen, dass er nicht laut ausgesprochen worden war, sondern dass er ihn mit seinem inneren Ohr gehört hatte. Jemand ganz in der Nähe rief ihn. Bevor er antwortete, sah er sich halbherzig um und hielt nach Hared Ausschau.
Hem. Antworte mir.
Er stellte die Gedankenverbindung her und erkannte erschrocken, wer es war. Der Wille, der ihn während der letzten Tage zusammengehalten hatte, zerbröckelte schlagartig; seine Knie gaben nach, und der Boden kam ihm Schwindel erregend entgegen.
Ich bin hier, flüsterte er, Während eine schwarze Flut in ihm anstieg. Saliman, ich bin hier.
Eine kühle Hand ruhte auf seiner Stirn, und seine Brust glich einer goldenen Blume, die ein Blütenblatt aus Licht nach dem anderen öffnete. Er trieb auf Wasser, dessen träge Wellen unter einem blauen, makellosen Himmel glitzerten.
Hem schlug zuckend die Lider auf. Saliman, der vor Magie silbrig schimmerte, starrte mit ernster Miene auf ihn herab. Schlaf jetzt, sagte er in seinem Geist. Schlaf. Wie lange war es her, seit er zuletzt richtig geschlafen hatte? Hem konnte sich nicht erinnern. Er schloss die Augen und glitt dankbar in sanfte, heilsame Dunkelheit. Hem wurde von Kochgerüchen geweckt. Er lag mit geschlossenen Augen da, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief; es schien Jahre her, dass er zuletzt etwas gegessen hatte, das gut schmeckte, das nicht nur freudlos gekaut wurde, um ihn am Leben zu erhalten. Er rappelte sich auf die Ellbogen. Hem befand sich in einer Laube aus lebenden Blättern, ineinander verwoben und zum Boden geneigt, sodass sie einen Unterschlupf bildeten; ein paar Schritte entfernt saß Saliman mit untergeschlagenen Beinen und wachte über einen Kessel mit Eintopf, der über einem Feuer hing.
Saliman schaute auf, als Hem sich rührte, und ihre Blicke begegneten sich zu einer langen Begrüßung. Weder Saliman noch Hem lächelten; dafür reichte ihre Freude zu tief. Hem stieg ein Kloß in den Hals, und er schluckte: Er hatte gedacht, er würde Saliman nie wiedersehen, und nun war er hier und kochte das Abendessen. Seine bloße Gewöhnlichkeit wirkte gänzlich wundersam: Die Zöpfe hatte er sich zu einem groben Knoten hochgesteckt, seine Kleider waren vom Reisen schmutzig, und er sah sehr müde aus. Hem erfüllte ein ernstes, unaussprechliches Verzücken: Trotz allem hatten sie beide überlebt.
Das Flattern von Schwingen und ein leiser Plumpslaut ertönten, und sie drehten sich beide um und beobachteten, wie Irc linkisch neben dem Feuer landete. »Hallo, Irc?, begrüßte ihn Saliman. »Hast du das Essen gerochen?«
Irc gab ein fragendes Krächzen von sich, und Saliman lachte.
»Es duftet köstlich«, sagte Hem und gesellte sich zu Saliman. »Dadurch bin ich wach geworden.«
»Tja, war ohnehin Zeit, dass du die Beine rührst. Die Sonne ist bereits vor Stunden aufgegangen.«
»Die Sonne?« Hem war erstaunt; er hatte gedacht, es wäre Abend.
»Du hast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschlafen«, erklärte Saliman. Er bedachte Hem mit einem scharfen prüfenden Blick. »Wie fühlst du dich?« »Es ging mir schon besser«, antwortete Hem. Seine Muskeln ächzten immer noch vor Steifheit, und er fühlte sich allgemein, als wäre er am ganzen Körper geschlagen worden. »Aber ich muss zugeben, in letzter Zeit ging es mir oft auch viel schlechter.« Er spähte zu dem Kessel, in dem Fleisch in einer Brühe aus Kräutern köchelte. »Wird das noch lange dauern?«
»Nein«, erwiderte Saliman und schenkte ihm ein breites Lächeln. »Ich dachte, zur Feier deiner Rückkehr können wir eine warme Mahlzeit wagen. Du siehst mir etwas abgemagert aus.«
»Aber könnte das Feuer
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