Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
wahrscheinlichsten erschien ihm, dass sie selbst vorhatte, einen Schatz zu stibitzen, was wiederum für Irc von Belang sein konnte. Dass sie sich jedoch auf diesem Platz unter all den Soldaten im Schatten der Stadtmauern befand, verwirrte ihn; hier konnte es nichts Kostbares geben. Irc mied die Mauern von Turbansk. Er kannte sie als gefährliche Orte, an denen aus dem Nichts brennende Dinge auftauchen und explodieren konnten und an denen der den Verstand betäubende Lärm der Schwarzen Armee - das stete Pochen der Kriegstrommeln und das Gebrüll von Trompeten - deutlich und schrecklich wurde. Über allem lag der beißende Geruch von Blut, verwesendem Fleisch und Feuer. Als Krähe hatte Irc im Allgemeinen keine Einwände gegen Aas, hier jedoch ängstigte ihn der Gestank. An den Mauern wusste man unweigerlich, dass Turbansk sich im Krieg befand; tiefer im Inneren der Stadt war es einfacher, den Umstand zu verdrängen. Aus Gewohnheit ließ Irc mäßig den Blick über die näheren Soldaten wandern und hielt Ausschau nach etwas, das er seiner Schatzsammlung hinzufügen könnte. Dabei hopste er durch blanke Unaufmerksamkeit zu Boden und ließ zudem Zelika aus den Augen. Was sich als Fehler erwies, denn Zelika drehte sich um und erblickte ihn zum ersten Mal.
Zelika handelte sofort und gewalttätig. Sie stürzte sich auf Irc und packte ihn, zuerst an einem Flügel, dann an den Füßen. Vor Wut keuchend rappelte sie sich auf und hielt ihn verkehrt herum. Irc baumelte wild flatternd von ihren Händen, kreischte vor Angst und Wut und verrenkte sich den Hals in dem Versuch, sie zu picken. Zelika streckte ihn auf Armeslänge von sich, um außerhalb der Reichweite seines scharfen Schnabels zu bleiben.
»Du dürres Stück Fischköder«, spie sie ihm entgegen. »Ich hätte wissen müssen, dass du mich bespitzelst. Ich sollte dir den dreckigen Kragen umdrehen!«
Irc verstand zwar nicht die Worte, doch was sie allgemein zum Ausdruck bringen sollten, war unmissverständlich. Er verstärkte sein entsetztes Kreischen.
»Halt den Schnabel, oder ich bringe dich um.«
Mit einer flinken Bewegung ergriff sie einen Lederriemen von ihrer Hüfte und fesselte Ircs Füße wie die eines dressierten Huhns. Darob wurde seine Angst von Wut verdrängt: Wie konnte sie es wagen, ihn so zu behandeln - ihn, Irc, den Boten des Königs?
Allmählich erregte das unscheinbare Schauspiel Aufmerksamkeit. Zelika, die Irc nach wie vor an den Füßen hielt, sah sich verzweifelt um und versuchte, dem Tier mit der Hand den Schnabel zuzudrücken. Irc pickte heftig nach ihr. Er war ein schwerer, kräftiger Vogel; Zelika musste” ihn loslassen. Er plumpste zu Boden, landete auf dem Rücken und wand sich aus Leibeskräften in dem Versuch,sich in die Luft zu erheben. Zelika aber packte ihn erneut und umklammerte seine Füße so fest, dass es schmerzte. Ohne auf das Blut zu achten, das ihr die Hand hinablief, bekam sie seinen Schnabel schließlich zu fassen und drückte ihn zu. Was Ircs Kreischen keinen Einhalt gebot, sondern lediglich dämpfte. Mittlerweile glaubte er wirklich, sie würde ihm den Kragen umdrehen.
»Was ist hier los?«
Jemand hob ihr den Helm vom Kopf. Erbost schaute Zelika in das harte, wettergegerbte Gesicht von Inhulca von Baladh auf, jenes Barden, dem sie vor Wochen kurz im Roten Turm begegnet war. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder. Er musterte sie mit unverhohlener Belustigung.
Das verletzte Zelikas Stolz; ihr wurde klar, wie lachhaft sie aussehen musste. Immerhin stand sie wie ein Bauernweib am Markt da und hielt einen tobenden Vogel. Allerdings wagte sie nicht, Irc loszulassen, weil er sofort zurück zu Hem fliegen und ihm Bericht erstatten würde. Also hielt sie den schweren Vogel weiter fest, tat so, als wäre er gar nicht da und erwiderte trotzig den Blick des Barden, der sie zutiefst neugierig musterte. »Du bist doch das kleine Mädchen aus Baladh, oder?«
Bei den Worten >kleines Mädchen< hätte Zelika am liebsten ausgespuckt. Vor Zorn den Tränen nahe, wandte sie sich zum Gehen. Alles lief falsch. Doch Inhulca war zu schnell für sie und schloss die Hand mit einem Griff um ihren Arm, den sie nicht abzuschütteln vermochte.
»Und dieser Vogel, den du da hast, das ist doch Lios Hlafs Krähe, nicht wahr? Ich finde, du solltest ihn nicht so grob behandeln; manche hier haben allen Grund, diesem Tier dankbar zu sein.«
»Er ist bloß ein kleiner Dieb«, entgegnete Zelika hitzig. »Er hat mich
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