Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
über eine seltsame, wässrige Landschaft: Die Überschwemmung hatte sich ausgebreitet, so weit das Auge reichte. Einen Lidschlag lang fragte er sich, ob der Wagen den Fluten entkommen war. Dann erspähte er ein Stück jenseits der Kuppe im Windschatten eines Felsausstrichs, wonach er suchte: eine Hütte aus Stein mit einem Dach aus Grassoden, so mit der Natur verwachsen, dass er sie beinah übersehen hätte. Mit vor Anstrengung brennenden Armen schob er die Schubkarre zur niedrigen Tür des Bauwerks und duckte sich, um das Innere zu begutachten. Die Hütte stand leer, nur ein feuchter Geruch erfüllte sie. Und da der festgetretene Erdboden sich als trocken erwies, musste das Dach dicht sein. Hem gab Saliman ein Zeichen. Der dunkelhäutige Barde wankte herein, brach an der gegenüberliegenden Wand zusammen, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Mit einem Gefühl unaussprechlicher Erleichterung begann Hem, die Schubkarre zu entladen und ihre Habseligkeiten in die Hütte zu tragen. Indes schwebte Irc in Kreisen vom Himmel herab, landete auf dem Dach und legte den Kopf schief, um Hem zu beobachten.
Hier ist es nicht so schön wie an dem letzten Ort.
Trotzdem viel besser als gar nichts, gab Hem gereizt zurück. Und genau das hätten wir beinah gehabt — nichts. Er war nicht in der Stimmung für Ircs Spitzfindigkeiten.
Irc, der Hems Laune spürte, verstummte. Es dauerte nicht lange, die Schubkarre zu entladen. Danach lehnte Hem sie außen gegen die Hütte und ging hinein. Drinnen herrschte Dunkelheit, weshalb er ein Makilon schuf und an der Tür ein kleines Feuer entfachte. Zwar würde sich die Hütte mit Rauch füllen, aber er wollte lieber das als die Kälte in Kauf nehmen. Der Regen setzte schließlich wieder ein, als er gerade den Zunder hinlegte. Irc flatterte herein und schüttelte das Gefieder.
In der Hütte waren sie vor dem Wind geschützt, und als die Flammen Fuß fassten, wärmte sich das Innere schnell. Hem schnitt ein paar Rüben und Bohnen auf, die er aus der Schänke gerettet hatte, und warf sie in ihren Kochtopf, da er vorhatte, einen Eintopf zum Abendessen zuzubereiten. Danach drehte er sich schließlich um und schaute zu Saliman.
Es ging ihm sichtlich schlechter als am Vormittag. Ein heftiges Zittern schüttelte ihn, obwohl in der Hütte mittlerweile angenehme Wärme herrschte, und sein Gesicht wirkte ausgezehrt vor Erschöpfung. Er beobachtete Hem aufmerksam, und als der Junge sich ihm zudrehte, räusperte er sich, als hätte er nur darauf gewartet zu sprechen.
»Hem, hör mir zu«, sagte er und versuchte, sich aufrechter hinzusetzen. Seine Stimme klang heiser, und es kostete ihn eindeutig Mühe zu reden. Er bediente sich der Hohen Sprache, nicht des Annaren, das sie die vergangenen Wochen gesprochen hatten. »Ich glaube, dass du einen Fehler damit begehst, dich so um mich zu kümmern und dein Leben aufs Spiel zu setzen, obwohl ich dich dafür liebe und ich nicht die Kraft habe, mich dir zu widersetzen, was ich tun sollte. Ich fürchte, dass ich heute Nacht den Verstand verlieren könnte, wenngleich ich hoffe, dass es noch nicht geschieht. Die Krankheit nagt an meinem Fleisch, an meinem Verstand, an meinen Knochen, und obschon ich mit aller Willenskraft und aller Magie dagegen ankämpfe, vermag ich sie nicht aufzuhalten. Ich fürchte, du kannst der Ansteckungsgefahr nicht entgehen, wenn wir auf so engem Raum schlafen.«
»Ich weiß, wie schlimm es ist«, erwiderte Hem mit kippender Stimme. »Aber Saliman, ich weiß auch, dass ich nicht falsch gehandelt habe. Auch wenn ich versagen und selbst krank werden sollte, würde ich es nicht bereuen.« Saliman lächelte mit solcher Traurigkeit, dass Hem beinahe zu weinen begann. »Es heißt, als die Große Stille in Annar herrschte, wurden Taten vollbracht, die nie durch Lieder oder Geschichten gewürdigt wurden, dass sie deshalb jedoch nicht weniger tapfer waren. Deshalb, Hem, gibt es mitten im Lied von der Finsternis einen langen Augenblick der Stille - um derer zu gedenken, deren Taten wir nicht kennen, die jedoch nichtsdestotrotz unsere Anerkennung und Erinnerung verdienen.«
Hem nickte. Er hatte dies in der Schule von Turbansk gelernt. Mittlerweile schien diese Zeit so weit zurückzuliegen, dass er sich ihrer kaum noch entsinnen konnte; all die Anblicke, Farben und Gerüche von Turbansk glichen einem lebendigen, aber fernen Traum.
»Ich denke, dass Schweigen Taten wie der deinen gedenkt, Hem. Für den Fall, dass ich sie später nicht
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