Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
ihn vollends weckte.
Jetzt, dachte er. Jetzt ist es so gut wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Ohne weiter darüber nachzudenken, kroch er zu Saliman hinüber, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben ihn und musterte das Gesicht seines Freundes. Im Schlaf wirkte er verletzlich und irgendwie wesentlich jünger; Hem konnte sich vorstellen, wie Saliman als Kind ausgesehen haben musste. Er beschloss, ihn nicht zu wecken; wenn er es täte, würde Saliman nur widersprechen, und Hem wollte nicht streiten. Er holte tief Luft, leerte seinen Geist und ergriff Salimans Hände. Die Haut des Barden fühlte sich trocken, rau wie Papier und sehr heiß an. Hem konnte seinen Herzschlag fühlen, einen schwachen, hektischen Puls, der keinen ebenmäßigen Takt hatte. Rasch durchsuchte er seinen Körper, sandte weißes Feuer durch Salimans Adern. Es war lediglich ein erstes Vortasten, um auszuloten, was ihn erwartete, wenn er mit der Heilung begönne. Sofort spürte er, dass stimmte, was Saliman ihm zuvor gesagt hatte; die Krankheit glich fauligem, öligem Rauch, der sich in unendlich verworrenen Mustern durch Salimans Wesen kräuselte. Sie zog sich von den Rändern des weißen Feuers zurück, wich Hems Vorrücken aus und schien beinah zu verschwinden, wenngleich ihm ein tiefer sitzendes Gefühl verriet, dass sie noch unvermindert da war und sich am Rand seines Sichtfelds herumdrückte.
Plötzliche Übelkeit keimte in Hems Magen auf. Es war dieselbe, die er in den Wäldern der Hügel von Glandugir verspürt hatte, und mit ihr setzte ein tief reichendes Empfinden von Abscheu und Grauen ein, als wäre er im Begriff, sich in eine Grube hinabzulassen, in der es vor Spinnen und Skorpionen wimmelte.
Hem zog seinen Geist zurück und saß einen Augenblick still. Keuchend und vor Entsetzen schwitzend, versuchte er, die Gedanken zu sammeln.
Er hatte Saliman kaum berührt, dennoch war es bereits sehr schlimm gewesen. Einen Lidschlag lang spielte Hem mit dem Gedanken, die Hütte zu verlassen, sein Bündel zu packen und vor dem Grauen der weißen Krankheit zu flüchten, so weit er konnte. Saliman regte sich, trat wild um sich und murmelte im Schlaf etwas Unzusammenhängendes, und Hem wich unwillkürlich zurück. Eine Weile musterte er die Züge seines Freundes. Ließe er Saliman im Stich, würde diese Schönheit für immer zerstört. Er würde nie wieder Salimans Lächeln sehen, nie wieder seine zu einem Lied erhobene Stimme oder seine langen, unglaublich spaßigen Geschichten hören, die er oft zum Verzücken seiner Freunde zum Besten gab.
»Nein«, sprach er laut aus und schob die kalte Stimme in ihm von sich, die über seine Schwäche höhnte. »Ich habe gesagt, dass ich ihn heilen werde. Ich habe gesagt, dass ich es nicht bereuen werde, selbst wenn ich mich anstecke. Ich werde es nicht bereuen.«
Abermals holte er tief Luft, ergriff erneut Salimans Hand und begann, ihn zu heilen.
Danach sollte die einzige Erinnerung, die Hem an jene Nacht behielt, eine von verwirrenden, endlosen Qualen sein, von einem langen, erschöpfenden Kampf gegen eine Krankheit, die ihn umhüllte, bis sie sich durch seine eigenen Adern wand und ihn mit einer Pein durchbohrte, wie er sie nie zuvor erfahren hatte. Er jagte flackernde Feuerranken und löschte sie, doch gleich darauf sah er sie dreiköpfig erneut aus der sauberen Dunkelheit aufflammen; er rang mit Dämonen aus Rauch und Ol, die ihn zu ersticken drohten; er hetzte die Seuche die unendlich winzigen Blutgefäße von Salimans Körper hinab, ehe sie stärker und beharrlicher als zuvor zurückgekrochen kam; er rannte dunkle, leere Straßen entlang, und vor ihm schwebte ein von Licht umhüllter Schatten, von dem er wusste, dass es sich um Saliman handelte, doch erwirkte immer ferner, immer blasser.
Hem rief Salimans Namen Arundulan! Arundulan! -, und seine Stimme erstarb in der dichten, dunklen, erstickenden Luft. Es gab keinen Ausweg aus diesem Albtraum, er umschloss ihn, und Hem roch seinen eigenen Tod, der aus seinem Bauch aufstieg, sein eigenes saures, verderbtes Fleisch. Seine Sicht setzte aus, seine Ohren waren wie mit Schlamm verstopft, seine Hände waren taub und spürten nichts. Er stolperte und fühlte, wie er fiel, und die Straße vor ihm wurde breiter und dunkler. Dann erblickte er ein mächtiges Licht, das aus der Ferne vor ihm erwuchs, und er wusste, dass er dem Tode nah war. Verzweifelt fasste er tiefer in sich, als er sich je vorgewagt hatte, weit unter die Schichten seines Selbst, die er
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