Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
sie konnte sich nicht bewegen. Dann gleißte ein blendendes Licht auf, und sie schien zu fallen, hörte nicht mehr damit auf, bis jemand sie schüttelte.
»Maerad.« Es war Cadvan. »Du hattest einen Albtraum.«
»Ja.« Maerad setzte sich auf, kämpfte sich aus dem Traum hervor und stellte fest, dass sie geweint hatte und ihre Decke sich um sie verheddert hatte. Es war um die dunkelsten Stunden der Nacht, und das Feuer war zu einer Glut niedergebrannt. Cadvan reichte ihr die Wasserflasche, aus der sie ausgiebig trank. »Hast du von Hem geträumt?«, fragte er.
»Woher weißt du das?«
»Du hast seinen Namen gerufen.«
»Ja… Es war ein entsetzlicher Traum …«
»Ein Zukunftstraum?«
»Nein«, antwortete Maerad stirnrunzelnd. »Nein, er war irgendwie anders. Auf eine Weise, die ich nicht verstehe. Ich weiß nicht einmal, wie ich es dir beschreiben soll. Es war einfach einer dieser - dieser bösen Träume, die man manchmal hat.«
Cadvan bohrte nicht nach, obwohl er unverkennbar neugierig war, und Maerad wollte nicht darüber reden. Bald danach übernahm sie die Wache, und Cadvan schlief. Maerad nährte das Feuer, um es am Leben zu erhalten, und musterte im trüben Licht Cadvans Züge. Schlafend war er ein Mensch wie jeder andere, körperlich verwundbar; auch die Kräfte, die ihn im wachen Leben zu einem der berühmtesten Barden von Annar gemacht hatten, schlummerten. Sie lächelte, als ihr unvermittelt einfiel, welches Vergnügen es ihm bereitete, auf einem Markt um einen Käse zu feilschen oder mit dem Gastwirt einer Schänke über Wetterkunde zu fachsimpeln. Er war zugleich schlichter und vielschichtiger, als andere dachten: Einerseits trug er seine Macht leichten Herzens und neigte dazu, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, andererseits hatte sie schon den inbrünstigen Stolz kennen gelernt, der ihn antrieb. Er zählte zu den uneitelsten Menschen, denen sie je begegnet war, aber zu den hochmütigsten. Nach all der Zeit kannte sie ihn wahrscheinlich so gut wie kaum sonst jemand in Edil-Amarandh, dennoch besaß er immer noch die Gabe, sie zu überraschen.
Wenn er schlief, wirkte er stets wesentlich jünger, als höbe sich die Bürde, die er im wachen Zustand trug, von ihm hinfort. Ich wünschte, so wäre es auch bei mir, dachte Maerad; doch für sie gab es keine Flucht, nicht einmal in Träumen. Sie wollte nicht über ihren Albtraum nachdenken; der damit verbundene Kummer lastete ihr immer noch schwer auf der Seele. Das Einzige, worüber sie Gewissheit empfand, war, dass es ein Traum voll von Tod gewesen war. Sie entsandte ihren Geist in die Nacht, suchte nach der vagen Gewissheit, dass Hem auf der Welt weilte, konnte jedoch nichts finden. Wenngleich sie es sich nicht eingestehen wollte, fürchtete sie plötzlich tief in ihrem Innersten, dass Hem tot sein könnte.
Am nächsten Tag bahnten sie sich langsam einen Weg nach Osten und hielten sich dabei so dicht am Rand der Fluten, wie es ging. Das Wasser hatte so rasch zu sinken begonnen, wie es angestiegen war, und hinterließ Pfützen braunen Wassers und verschiedenerlei Rückstände: abgebrochene Aste, die aufgedunsenen Kadaver ertrunkener Tiere, und überall eine Schlammschicht. Die Pferde schritten geziert über den aufgeweichten Boden, und Darsor weigerte sich, im Schlamm zu gehen. Keru tat ihren Unmut zwar weniger deutlich kund, erwies sich jedoch als genauso stur wie Darsor, wenngleich Maerad vor Ungeduld brannte und die Pferde zurück in Richtung der Weststraße getrieben hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Es riecht nach Tod, sagte Darsor, als sie ihn zu überzeugen versuchte. Ich tauche meine Hufe nicht in Tod.
»Die Pferde haben recht«, meinte Cadvan. »Es ist gefährlich, zumindest bis wir sicher sind, dass es nicht erneut regnen wird; es würde nicht viel brauchen, damit die Fluten zurückkehren. Und es wird nicht lange dauern, bis dieser Geruch schlimmer wird.«
Maerad setzte eine finstere Miene auf und blickte prüfend in den grauen Himmel, begehrte jedoch nicht weiter auf. Die Überschwemmung hatte tatsächlich den unverkennbaren Geruch von Verwesung und Schimmel hinterlassen, und sie wollte ebenso wenig wie die Pferde erneut in die Fluten geraten. Im Verlauf des Tages schien sich zu bestätigen, dass die schlimmsten Regenfälle vorüber waren. Die Wolken brachten nur noch ein paar leichte Schauer, die sich rasch verzogen. Die Sonne warf ein trübes, wässriges Licht und verschwor sich mit der leeren, einsamen Landschaft, um
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