Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
folgten, schien Grigar die Gegend wie seine Westentasche zu kennen und sich nie zu verirren. Hem sank in einen dumpfen Taumelzustand der Erschöpfung. Endlich schienen sie irgendwo einzutreffen; ruckartig erwachte er und schüttelte den Kopf, um klar denken zu können. Im Nebel zeichneten sich die Umrisse von etwas ab, das ein verfallenes Bauernhaus zu sein schien. Das Dach hing verwahrlost durch, die Steinmauern bröckelten vor Alter und den Einflüssen des Wetters. Grigar führte sie zur Rückseite, zu einem kopfsteingepflasterten Hof, wo in den Winkeln riesige Sauerampferstauden wucherten. Hem seufzte. Im Hinterkopf hatte er gehofft, Grigar würde sie zu einem Ort mit Betten führen richtigen Betten mit Leinenlaken und warmen Decken… aber natürlich, so dachte er, war das zu viel verlangt.
»Du solltest absteigen«, meinte Grigar. Hem nickte, glitt von Ushas breitem Rücken und stellte sich schaudernd neben die anderen. Ihm war kalt bis auf die Knochen. Er starrte auf das verfallene Haus: Es lag völlig finster da, ließ keine Anzeichen auf Bewohner erkennen. Was nun?
»Saliman, verzeih mir, aber ich muss euch alle ersuchen, euch umzudrehen und die Augen zu schließen. Es ist besser, wenn ihr nicht seht, was ich tue, und es dauert nur einen Lidschlag.«
Hekibel hatte während des ganzen langen Marsches geschwiegen, und als Hem ihr bleiches Antlitz betrachtete, beschlich ihn der Eindruck, dass sie am Rande des Zusammenbruchs stand.
»Ich will die Augen nicht schließen«, sagte sie. »Ich kenne Euch nicht.« »Aber ich kenne Grigar«, warf Saliman ein und ergriff ihre Hand. »Wir sollten tun, was er verlangt.« Hem verspürte einen Anflug von Eifersucht; er hätte gern gehabt, dass Saliman auch ihm die Hand gereicht hätte. Immerhin fühlte er sich genauso beunruhigt wie Hekibel. »Bitte, schließt die Augen«, wiederholte Grigar. Saliman wandte sich mit geschlossenen Lidern von Grigar ab, und nach einem kurzen Atemzug taten es ihm Hekibel und Hem gleich.
Sie hörten Grigar in der Hohen Sprache so leise murmeln, dass Hem die Worte nicht verstand. Dann veränderte sich auf sonderbare Weise etwas. Hem spürte es mit dem ganzen Körper, als hätte die Temperatur jäh umgeschlagen, doch er vermochte nicht zu sagen, was geschehen war.
»Jetzt könnt ihr wieder herschauen«, sagte Grigar.
Hem schlug die Augen auf und stellte fest, dass sich das Licht in jenem kurzen Moment völlig verändert hatte: Am Himmel zeichneten sich rosige Schlieren ab, Vorboten des Sonnenaufgangs, und es war nicht mehr so kalt. Irc, der auf seiner Schulter kauerte, krächzte tief, ein Laut, der Überraschung und Freude gleichzeitig ausdrückte. Hem blinzelte. Gewiss musste diese Mauer eingestürzt sein… Er drehte sich um und sah zu seinem Erstaunen, dass er sich statt vor einem verfallenen Haus auf dem Hof eines offenbar blühenden, ordentlich instand gehaltenen Gehöfts befand. Die Tür stand offen, und durch sie hindurch konnte er einen breiten Kamin sehen, in dem ein schwaches Feuer orangefarben flackerte. »Willkommen im Haus Marajans«, sprach Grigar. »Zu eurer Linken sind Ställe, wo ihr die Pferde unterbringen könnt. Und obwohl ich uns nicht ankündigen konnte, wird es nicht lange dauern, ein Frühstück aufzutischen, das dem Appetit entspricht, den wir uns verdient haben.«
Saliman stieß einen Pfiff aus. »Ich bin erstaunt, Grigar«, sagte er. »Wo sind wir?« »Wo wir zuvor waren, aber in einer anderen Zeit. Die Finsternis reicht mittlerweile so tief ins Herz Desors, dass in unserer Zeit kein Ort mehr sicher ist. Und wie du selbst feststellen wirst, ist Marajan eine Bardin mit ungewöhnlichen Kräften … Aber schnell, ich zeige euch die Ställe, dann gebe ich Marajan Bescheid, dass ihr hier seid. Kommt einfach durch die Tür, wenn ihr bereit seid.«
»Gibt es hier Betten?«, fragte Hem kleinlaut.
Grigar lachte und klopfte Hem so herzhaft auf den Rücken, dass ihm die Luft aus der Lunge wich. Der Barde war ein großer Mann mit entsprechend großen Händen. »Ja«, antwortete er. »Und ihr könnt schlafen, solange ihr wollt. Solange wir uns hier aufhalten, ist keine Eile geboten.«
»Ich dachte, nur Elidhu könnten jemanden in eine andere Zeit bringen«, sagte Hem benommen, als sie die hufwunden Pferde in die Ställe führten. Er erinnerte sich daran, wie Nyanar ihn aus der unerträglichen Gegenwart des Lagers von Sjug’hakar Im weggeholt hatte. Diesem Ort haftete ein ähnliches Gefühl jener eigenartigen
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