Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
es nie sein. Ich hasse die Menschen, die uns das angetan haben. Du bist meine Schwester, und das wusste ich schon immer; ich habe dich all die Jahre vermisst, ohne es zu wissen. Selbst wenn wir das nicht überstehen, bin ich froh, hier zu sein. Und ich liebe dich, ganz gleich, was geschieht.«
Maerad saß sehr still da, und das Licht in ihr schien heller zu leuchten. Schließlich drehte sie sich Hem mit vor Tränen glitzernden Augen zu. »Ich liebe dich auch, mein Bruder«, flüsterte sie.
Damit beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Stirn, und die sanfte Berührung ihrer Lippen fühlte sich wie ein Brandzeichen auf Hems Seele an. Dann stand sie auf und ging in die Nacht davon, den Mantel fest um sich geschlungen, um sich gegen den Wind zu schützen. Hem beobachtete, wie sie rastlos auf und ab lief, ein blasser goldener Schimmer in der Dunkelheit, und ihn beschlich das Gefühl, noch nie jemanden gesehen zu haben, der so einsam war.
Im Verlauf der nächsten Tage steigerte sich Maerads Verwirrung. Sie hatte das Gefühl, auf unerklärliche Weise die Verbindung zu sich selbst zu verlieren. Es stellte einen Kampf dar, in der Gegenwart zu bleiben, die Landschaft wahrzunehmen, durch die sie reisten; bisweilen fühlte sie sich in einem endlosen, schattenerfüllten Traum gefangen. Wenn sie alle Anstrengung darauf richtete, ihre Bardensinne auszusperren, oder wenn sie sich in die Haut kniff, erfuhr sie plötzliche Augenblicke der Klarheit, in denen sie nur Maerad war, sonst nichts, in einer einzigen Gegenwart. Solche Momente empfand sie als unsägliche Erleichterung.
In mancherlei Hinsicht gestaltete es sich schwieriger, weil es ihr schwerfiel, sich an das Reisen in Gesellschaft zu gewöhnen. Das vergangene Jahr war sie, außer bei den Wölfen, nie mit mehr als einem Begleiter unterwegs gewesen, und die Gegenwart von Saliman und Hekibel, sosehr sie die beiden mochte, störte den zwanglosen Takt ihrer Vertrautheit mit Cadvan. Es überraschte Maerad, dass sich ein Gefühl von Eifersucht regte. Cadvan freute es unverkennbar, Saliman zu sehen, der schließlich einer seiner ältesten und engsten Freunde war, und die beiden Barden ritten für gewöhnlich Seite an Seite und redeten oft bis spät in die Nacht miteinander. Voll schmerzlicher Überraschung begriff sie, dass sich auch Cadvan die vergangenen Wochen einsam gefühlt hatte, dass ihre Freundschaft unter den Befürchtungen litt, mit denen ihn ihr Unterfangen erfüllte, unter seinen Zweifeln, sogar unter seiner Sorge um Maerad selbst. Der Gedanke weckte in ihr einen unangenehmen Schmerz; sie dachte daran, wie sehr sie auf seine Unterstützung zählte, und wunderte sich über ihre eigene Gedankenlosigkeit. Mitunter wirkten Cadvan und Saliman völlig unbesorgt, als könnten sie nun, da sie sich dem unbekannten Ende ihres Bestrebens näherten, kleinere Kümmernisse von sich abfallen lassen; und Maerad wurde klar, dass es lange her war, seit Cadvan und sie zuletzt miteinander gelacht hatten. Vielleicht war ihre Freundschaft doch nicht so stark, wie sie angenommen hatte.
Seit dem Verlassen des Hohlen Landes hatte sie weder eine Mahlzeit gegessen noch geschlafen, dennoch verspürte sie weder Hunger noch ein Schwinden ihrer Kraft. Cadvan bot ihr jeden Abend etwas zu essen an, und sie fühlte Missbilligung in seinem Schweigen, wenn sie es ablehnte, wenngleich sie erleichtert war, dass er sie nicht bedrängte.
Tatsächlich sprach aus Cadvans Schweigen keine Missbilligung, sondern Taktgefühl, doch das erkannte sie nicht; ebenso wenig nahm sie die Besorgnis in seinen Augen wahr, wenn sein Blick auf ihr ruhte. Cadvan achtete fast immer darauf, durch seine Miene nichts zu verraten, doch manchmal drang seine Angst um Maerad unübersehbar durch: wenn er sie um Mitternacht außerhalb des Lagers stehen und auf Dinge starren sah, die sonst niemand wahrzunehmen vermochte; oder einmal, als sie mit Keru um ein Haar n einen Baum geritten wäre, den sie nicht bemerkt hatte, weil ihre Augen ihr eine Landschaft zeigten, die es nicht mehr gab. Wenngleich er nicht davon sprach, waren Cadvan die Schatten, die Maerad umgaben, bewusster, als sie ahnte.
Und sowohl ihm als auch Saliman entging Maerads Zerbrechlichkeit nicht. Ohne Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sorgten sie dafür, dass sie nachts keine Wachschicht übernahm, sodass sie nie alleine war. Die Nächte langweilten sie: Manchmal legte sie sich hin, als schliefe sie, während sie in Wahrheit spürte, wie in ihrem Körper die lebendige
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