Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Fackel, sodass es ihn beinah überraschte, als er sie ansah und nur den leichten goldenen Schimmer wahrnahm, der durch ihre Haut pulsierte.
»Willst du denn gar nicht schlafen?«, fragte er.
»Nein«, gab Maerad fast bockig zurück. »Es ist langweilig, nur dazuliegen. Eigentlich will ich gar nicht anhalten; wir sollten noch reiten, die Zeit ist so knapp …«
»Wir kämen nirgendwohin, wenn die Pferde vor Erschöpfung zusammenbrächen«, entgegnete Hem sachlich. »Und auch wenn du nicht müde bist, ich bin es - sehr sogar.«
Maerad erwiderte nichts. Stattdessen starrte sie über die Ebenen, und Hem, der empfänglich für ihre Gedanken war, wusste, dass sie etwas beobachtete, das er nicht sehen konnte. Unbehaglich rührte er sich, und sie drehte sich ihm zu, nahm ihn plötzlich wieder wahr. »Hast du Angst vor mir?«, fragte sie unverhofft.
Hem sah ihr in die Augen. In der Dunkelheit leuchteten sie mit einem kalten blauen Licht, und sie schienen ihn sowohl anzublicken als auch durch ihn hindurchzustarren.
»Nein«, antwortete Hem. »Du?«
Kurz wirkte Maerad verdutzt, dann lachte sie. »Nein… ja. Doch, ich glaube schon«, sagte sie. »Ich denke… vielleicht sollte ich Angst haben.« Sie ergriff Hems Hand, hielt sie fest, drehte sie mit der Handfläche nach oben und starrte grüblerisch darauf, als könnte sie darin ihre Zukunft lesen. »Alle anderen haben Angst vor mir. Sie sitzen ein Stückchen weiter weg und achten darauf, was sie sagen.«
Hem zuckte mit den Schultern. »Irc fürchtet sich nicht vor dir«, sagte er. »Er findet, du bist wie Nyanar.«
»Der Elidhu, dem du begegnet bist?« Ein Lächeln verzog Maerads Lippen. »Was meint er damit?«
»Ich denke, er meint - irgendwie wild und traurig. Für mich allerdings fühlst du dich nicht wie ein Elidhu an.«
»Wie fühle ich mich dann an?« Herausfordernd musterte Maerad ihn. »Wie meine Schwester.« Hem sah Maerad an, dann wandte er den Blick ab. »Ich glaube, ich habe Angst um dich«, meinte er nach kurzem Schweigen. »Ich meine, niemand von uns weiß, was das alles bedeutet. Und manchmal denke ich, es bedeutet bloß, dass wir alle tot sein werden, ganz gleich, was geschieht, und das kommt mir so ungerecht vor.« Er setzte ab. »Und im Augenblick siehst du aus, als hättest du schreckliches Fieber und solltest im Bett sein.«
»Aber ich habe kein Fieber.«
»Ich weiß. Trotzdem siehst du so aus. Und es ist schlimm, dass du weder isst noch schläfst. Ich glaube, das liegt irgendwie am Baumlied in dir, oder an etwas Ähnlichem, an etwas, das dich nicht loslässt. Ich spüre es zwar nicht so wie du, aber ich kann es in dir fühlen. Und ich fürchte, es ist nichts, was ein menschlicher Körper lange ertragen kann… ich frage mich unweigerlich, wie lange du noch durchhältst.« Maerad zog überrascht die Augenbrauen hoch und wirkte verunsichert. »Ich bin Heiler«, erklärte Hem mit leiser Stimme. »Wenn ich ich berühre, fühle ich, dass dein Körper wie - wie eine der Saiten deiner Leier ist; er schwingt mit einer Note, die ich nicht hören kann, und er ist so entsetzlich angespannt. Aber ich weiß, dass du es nicht abstellen kannst. Deshalb habe ich Angst um dich. Aber ich habe keine Angst vor dir.«
»Du bist ein Heiler?« Maerad betrachtete Hem mit neuem .Respekt. Er sprach mit einer Selbstsicherheit, die sie zuvor nicht in seiner Stimme gehört hatte. Ihre Hand schloss sich fest um die ihres Bruders. »Es ist seltsam«, meinte sie. »Seit wir - seit das Baumlied fast geschehen ist, fühle ich mich so einsam. Ich weiß nicht, warum … aber ich glaube, dass die Elidhu verschwunden sind. Ich denke, dass sie die ganze Zeit bei mir waren, Ardina und Arkan; selbst wenn ich es nicht bemerkt habe, wussten sie, wo ich war, und sie waren - irgendwie an meiner Seite. Es war mir nicht ar, bis sie verschwunden sind. Jetzt sind sie weg, und alles fühlt sich so leer an.«
»Ich bin doch hier«, erwiderte Hem und ergriff mit beiden Händen Maerads verstümmelte Hand, die zitterte.
Er hörte, wie sie die Luft einsog. »Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es wird nie so werden, wie es hätte sein sollen«, meinte Hem. Plötzlich wurde ihm deutlich bewusst, wie klein Maerad war; er überragte sie bereits, und die Knochen ihrer Hand fühlten sich so zerbrechlich wie die eines Vogels an. »Wir hätten zusammen in Pellinor aufwachsen, uns zanken und miteinander spielen sollen, ie es Kinder tun, wenn man sie beobachtet… Aber so war es nicht, und so wird
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