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Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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vergolten. Hem hatte Kinder gesehen, die unwiederbringlich zerbrochen worden waren, deren leere Blicke von so viel Leid zeugten, dass keine Worte es zu beschreiben vermochten; er hatte vor Wahnsinn und Schmerzen verzerrte Fratzen gesehen, Gesichter blind vor Grauen und Wut … und tote Gesichter, zu viele tote Gesichter…
    Er dachte an seine Freundin Zelika. Ihr Antlitz hatte er nicht gesehen, nachdem sie gestorben war. Manchmal konnte er nicht sagen, ob er Dankbarkeit empfand, weil ihm diese Erinnerung erspart blieb, oder ob er dachte, dass ihm die Gelegenheit verweigert worden war, sich von ihr zu verabschieden. Ihre lieblichen, wilden Züge stiegen so lebendig vor seinem geistigen Auge auf, als stünde sie vor ihm; und seine Trauer um sie brach neuerlich in ihm auf, roh und blutig, als erführe er sie zum ersten Mal. Nichts würde diesen Verlust je aufwiegen, nichts würde diese Wunde je heilen; selbst wenn der Namenlose besiegt, sein Wirken in Staub verwandelt und völlig verschwinden würde, wäre Zelika immer noch tot. Ihr Sterben versinnbildlichte all die Ungerechtigkeit, all die unnötige Verschwendung dieses schrecklichen Krieges.
    Abermals spritzte sich Hem Wasser ins Gesicht und keuchte ob der Kälte. Er wollte diese Gedanken nicht. Die Finsternis hatte sein ganzes Leben zerrissen, aber die Aufhebung des Baumlieds würde die entsetzlichen Dinge, die sich ereignet hatten, nicht ungeschehen machen, und er würde nie von seinen Erinnerungen befreit werden. Er machte ein entschlossenes Gesicht und starrte blicklos über die von der purpurnen Morgendämmerung erhellten Hügel in Richtung der nebelverhangenen Gipfel der fernen Berge.
    Schließlich kehrte er zu den anderen zurück und machte sich nützlich, indem er beim Abbauen des Lagers half. Niemand stellte Cadvans Vorhaben in Zweifel, dass sie ins Katenmoor ziehen sollten. Hem nickte dazu nur; ihm schien es die richtige Richtung zu sein. Sein Erdgespür regte sich in ihm wie eine Melodie, die er nicht ganz zu hören vermochte, und rief ihn nach Norden.
    Alle schienen dieselbe Dringlichkeit zu empfinden, als wüssten sie, dass die Zeit knapp wurde. Rasch packten sie, und kurz nach dem ersten Tageslicht ritten sie entlang der Grenzen des Hohlen Landes nach Nordwesten, Hem wieder hinter Hekibel auf Usha. Sie wandten die Gesichter von den Lumpen, Gebeinen und Aashaufen ab, die als einzige Überreste der Untoten und ihrer Rösser zurückgeblieben waren, und trieben die Pferde, so schnell sie konnten, über die niedrigen Hügel. Im Sonnenlicht lag ein Hauch von Wärme, der ihre Schultern berührte. Die Tiere waren ausgeruht und eifrig, und die verwaiste Landschaft zog rasch an ihnen vorbei. Bei Anbruch der Abenddämmerung hatten sie das Hohle Land hinter sich gelassen und näherten sich dem Milhol, der zwei Tagesritte südlich der gleichnamigen Ortschaft lag. Eine Bardenstraße aus Stein verlief den Fluss entlang durch die Bruchhügel nach Ettinor.
    Maerad starrte auf das braune Gewässer mit seinen Ufern voll schwarzem Ried, das durch die trübe Oberfläche stach, und erinnerte sich daran, dass es unweit dieses Ortes gewesen war, weiter unten entlang der Straße in den Bruchhügeln, als sie das erste Mal eines Untoten ansichtig wurde. Die Ängste, die sie damals ausgestanden hatte, erschienen ihr nun völlig unvorstellbar. Vielleicht, so dachte sie, lag es daran, dass sie seither weit schlimmeren Schrecken begegnet war.
    Trotz des Schlafmangels verspürte sie keinerlei Müdigkeit, allerdings beunruhigte sie ihre Sicht. Die Schattenwelt, die sie in der Nacht zuvor zum ersten Mal gesehen hatte, war mit dem morgendlichen Sonnenlicht verschwunden, doch im Verlauf des Tages kehrten die Schleier allmählich zurück, sodass sie bisweilen nicht sicher war, durch welche Landschaft sie ritt - oder genauer gesagt, durch welche Zeit. Und die Erscheinungen wurden deutlicher. Einmal sah sie eine lange Schlange von Menschen, beladen mit ihren Habseligkeiten, durch einen Nebel eilen, und sie vermittelten den Eindruck, als wären sie auf der Flucht. Sie blickten über die Schultern zurück, als fürchteten sie, verfolgt zu werden, und Maerad vermeinte in ihren Augen den Widerschein von Flammen zu erkennen; aber sie schüttelte den Kopf, und die Vision löste sich auf. Ein anderes Mal sah sie in der Nähe des letzten Kreises stehender Steine, an dem sie vorbeikamen, bevor sie das Hohle Land verließen, einen Greis mit sehr langem Bart, groß und dürr wie eine junge Birke, die

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