Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Kraft pulsierte, die sie nie verließ; oder sie stapfte rastlos durch das Gras und blickte südwärts zu den schroffen Spitzen der Bruchhügel, wo sie einen großen, schweren Schatten spürte, oder westwärts in Richtung des Katenmoors; meist jedoch saß sie bei demjenigen, der Wache hielt.
In der zweiten Nacht teilte sie sich eine lange Wache mit Hekibel. Sie stellte fest, dass Hekibel sich als unverhofft bezaubernde Gesellschaft erwies, die eine unausgesprochene Gabe des Verständnisses besaß, gepaart mit einem scharfen Verstand. Ihre Unterhaltung beruhigte Maerad, und eine Zeit lang empfand sie es nicht als Kampf, in der Gegenwart zu verweilen, und ihre gespenstischen Visionen verschwanden. Hekibel vertrieb ihr die Zeit, indem sie lustige Geschichten über ihr Leben als Schauspielerin zum Besten gab. Sie erzählte sie gut, und Maerads Gelächter hallte über die menschenleeren Ebenen und erschreckte eine jagende Eule, die darob plötzlich und unter furchtsamen Rufen von ihnen wegflog. Der Wind hatte sich während des Tages gedreht und war schließlich abgeflaut. Früher am Abend hatte es ein wenig geregnet, und der angenehme Duft feuchter Frühlingserde stieg in die Nachtluft auf. Maerad fühlte sich zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Inneil unbeschwert. Als Hekibel sich nach Maerads Kindheit erkundigte, antwortete sie ohne Unbehagen. Es war angenehm, mit einer Frau zu reden, zumal Hekibel mitfühlend und urteilslos lauschte.
Maerad fragte Hekibel, warum sie nicht mit Grigar nach Inneil gegangen war, als sie Desor verlassen hatte, wo sie sicherer gewesen wäre als bei dieser Reise durch die Wildnis bei ihrem ungewissen Unterfangen. Hekibel, die gern ihre Hände beschäftigte, rieb gerade Fett in ihre Stiefel, und als Maerad ihr die Frage stellte, hielt sie mit ernster Miene inne und antwortete eine Weile nicht. Schließlich sah sie Maerad reumütig an und lachte. »Ich fürchte stark, dass ich mich in Saliman verliebt habe«, sagte sie. »Und ich glaube, ich würde ihm ans Ende der Welt folgen.«
Einen Augenblick wusste Maerad nicht, was sie darauf erwidern sollte. »Oh«, stieß sie letztlich hervor und errötete. »Und … weiß Saliman es?«
Hekibel schwieg eine Zeit lang. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es nicht bemerkt hat«, meinte sie. »Ihr Barden seht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Er ist immer sehr freundlich, wenn er mit mir spricht, aber ich glaube, das liegt eher daran, dass er mich bemitleidet.« Hekibel grinste schief. »Es ist schwierig, sich nicht ein wenig töricht zu fühlen …«
Maerad ergriff ihre Hand. »Oh nein, bitte, fühl dich nicht töricht«, erwiderte sie mit einem Anflug von Herzlichkeit. »Es ist nicht töricht zu lieben. Cadvan hat einmal zu mir gesagt, dass es niemals falsch ist zu lieben. £5 kann verheerend sein, es kann unmöglich anmuten, es kann grausamen Schmerz heraufbeschwören. Aber falsch ist es nie. Das habe ich nie vergessen; mir erscheint es wahr zu sein.« Damit sah sie Hekibel in die Augen; ihr eigener Blick war plötzlich klar und gewärtig. »Jedenfalls denke ich, dass Saliman dich liebt.«
Hekibel wandte sich ab. »Wenn er es tut«, meinte sie, »wüsste ich nicht, woran es jemand bemerken sollte. Er verbirgt es gut.«
Maerad musterte Hekibel von der Seite: das dunkelblonde unter der Kapuze hervorquellende Haar, den weichen, sinnlichen Mund. Sie beneidete Hekibel um ihre Schönheit; neben ihren weiblichen Rundungen nahm Maerad sich dürr und knochig aus. Hekibels Haut besaß den goldenen Glanz eines Winterapfels, war glatt und weich, doch ihre Süße mutete nie übersättigend an: Sie war zu klug, zu stark. Natürlich liebte Saliman diese Frau.
»Es ist offensichtlich, dass er dich mag«, meinte sie schließlich.
Dabei wurde ihr klar, dass sie solcherlei Gespräche unter Frauen nicht gewohnt war, und wünschte sich plötzlich inständig, Silvia wäre bei ihnen. Silvia wüsste das Richtige zu sagen.
»Das weiß ich«, erwiderte Hekibel und begann mit frischer Heftigkeit ihre Stiefel einzureiben. »Und seine Freundschaft ist mir kostbar. Trotzdem kann ich nicht anders, als mehr zu wollen. Ich wünschte, ich wäre eine Bardin, oder er wäre kein Barde. Er ist der bestaussehende, großzügigste Mann, dem ich je begegnet bin. Als ich ihn todkrank in Hiert zurückließ… wäre ich am liebsten gestorben …« »Es gibt keinen Grund, warum ein Barde jemanden ohne die Gabe nicht lieben könnte. Es kann nur schwierig sein, das ist alles -
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