Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Tore waren fest verschlossen, und Maerads Bardensinne verrieten ihr, dass nicht nur Eisenstäbe, sondern auch mächtige Magie sie sicherten. Die Banne verursachten ihr ein regelrechtes Schwindelgefühl. Natürlich waren die Tore geschlossen; nach ihrem ersten Entsetzen wurde Maerad klar, dass sie wohl kaum offen stehen würden, wenn Inneil ein Angriff bevorstand.
Cadvan stand in den Steigbügeln auf, streckte die Arme hoch in die Luft, ließ ein blendendes Licht um sich entstehen und brüllte laut: »Lirean! Lirean noch Dhillarearean!«
Maerad glaubte kaum, dass ihn jemand über den Sturm hören könnte, und selbst wenn, würde man die Tore öffnen? Sie begann, mit Cadvan zu brüllen und kämpfte gegen die Panik an, die sie bei der Vorstellung bestürmte, vor den Mauern gefangen zu sein.
Sie hatte die Hoffnung bereits fast aufgegeben, als eines der Tore nach innen aufschwang. Dahinter winkte sie eine vermummte Gestalt hinein; wer immer es sein mochte, auch er brüllte, doch seine Worte wurden vom Wind hinfortgerissen. Darsor und Keru bedurften keiner Aufforderung, hineinzureiten: Kaum war die Öffnung breit genug, preschten sie hindurch. Das Tor fiel geräuschvoll hinter ihnen zu, und ein halbes Dutzend Leute hievten die schweren Eisenstäbe zurück an ihren Platz.
Plötzlich erschien alles sehr still.
Maerad sprang von Keru, die nass, mit gesenktem Kopf, sich heftig hebender und senkender Brust und am ganzen Leib zitternd dastand.
»Gut gemacht, Keru«, flüsterte sie der Stute ins Ohr und tätschelte ihr den Hals. Dann drehte sie sich um, weil sie demjenigen danken wollte, der sie hereingelassen hatte, und sah, dass es sich um Silvia handelte.
»Dem Licht sei Dank«, sagte Silvia und drückte erst Maerad, dann Cadvan an ihre Brust. »Ich haben ihnen gesagt, dass ihr es seid. Sobald ihr weg wart, wurde mir klar, dass euer Aufbruch ein Fehler gewesen ist…«
Maerad umarmte sie innig, dann wich sie zurück, weil sie so durchnässt war, als wäre sie in einen Teich gesprungen. »Ich bringe Keru besser in den Stall«, meinte sie.
»Und ich muss mich um Darsor kümmern«, meldete sich Cadvan zu Wort. »Silvia, wir versorgen die Pferde und ziehen uns um. Und vielleicht fällt uns dabei ein, wie wir euch am nützlichsten sein können.«
»Malgorn ist im Wachhaus. Stoßt dort zu uns, sobald ihr könnt. Ich muss mich beeilen - es ist noch zu viel zu tun …« Silvia richtete sich zu voller Größe auf, und Maerad erkannte entsetzt, dass sie unter dem Mantel eine Panzerung trug. Maerad hatte Silvia nie für eine Kriegerin gehalten. »Dies ist der Angriff, den wir alle befürchtet haben. Ich will nicht so tun, als brauchten wir nicht jede Hilfe, die wir bekommen können. Ich bin dankbar, dass ihr hier seid, Cadvan.«
Kurz legte Cadvan ihr eine Hand auf die Schulter. Silvia nickte ihnen beiden zu, dann ging sie. Cadvan und Maerad blieben noch einen Augenblick stehen und lauschten dem Geheul des Windes.
»Tja«, meinte Cadvan schließlich und ergriff Darsors Zügel. »Wieder in einen Sturm geraten, Darsor, aber diesmal gibt es an seinem Ende wenigstens Heu.« Er wandte sich Maerad zu. »Besser hier als draußen«, sagte er. »Dennoch habe ich das Gefühl, dass es ein langer Tag wird.«
Wetterkunde
Sie ritten das kurze Stück zu den Ställen und mussten dabei gegen den Wind ankämpfen. Einer von Indiks Lehrlingen, der blass wirkte, nahm ihnen die Pferde ab. In einer der leer stehenden Boxen schlüpften sie in trockene Kleider aus ihren Bündeln; sie hatten keine Zeit, um zum Bardenhaus zu laufen. Als Maerad sich an diesem Morgen angezogen hatte, war ihr nur an Wärme gelegen gewesen. Im Nachhinein betrachtet empfand sie es als töricht, auf ihr Kettenhemd verzichtet zu haben. Nun stülpte sie es sich schaudernd über den Kopf. Als sie weiter in ihrem Bündel kramte, bekam ihre Hand den Schwarzstein zu fassen und strich über dessen seltsame Oberfläche hinweg. Sie mochte es nicht, ihn zu berühren, und ließ ihn sofort wieder los. Dann ergriff sie ihn erneut, mit aller Vorsicht, und hängte ihn sich um den Hals.
Maerad spähte durch das Stalltor hinaus in das Chaos: Selbst in der kurzen Zeit, die sie im Stall verbracht hatten, hatte der Sturm sich verschlimmert. Mittlerweile herrschte eine Dunkelheit, die beinah an tiefste Nacht erinnerte, wenngleich es mitten am Vormittag sein musste, und die Luft fühlte sich bitterkalt an. Abgebrochene Aste und andere Gegenstände schlitterten über die schmalen Gassen
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