Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Malgorn wenig gesagt hatte, hatte er Maerad eindeutig für verrückt gehalten, als sie verkündete, dass sie Hem suchen wollte, der sich überall in EdilAmarandh aufhalten konnte, sofern er überhaupt noch lebte. Und Maerad konnte nicht verhehlen, dass sie selbst Zweifel hegte. Andererseits war sie mit wenig mehr als Hinweisen zum Geleit auf der Suche nach dem Baumlied quer über die gefrorenen Oden des Nordens gereist; mittlerweile fühlte sie sich selbstsicherer in ihren Eingebungen. Auch Cadvans Vertrauen in ihr Weistum empfand sie als ermutigend.
Ein leichter Schneeregen herrschte: Der Winter war mit geballter Kraft zurückgekehrt. Maerad schlang ihren Mantel eng um sich und eilte mit eingezogenem Kopf durch die vom Regen gepeitschten Straßen zu den Ställen, wo sie Cadvan vermutete. Ihre Ahnung erwies sich als richtig: Er saß in eine Unterhaltung mit Darsor vertieft auf einem Futtertrog. Als Maerad eintrat, schaute er auf und lächelte.
»Darsor hat mir gerade mitgeteilt, dass ihm an einem Tag wie diesem die Vorstellung von einem warmen Stall recht gut gefällt«, sagte er. »Trotzdem ist es gutes Wetter für Reisende, die unbemerkt bleiben möchten.«
»Letzes Mal, als wir aufgebrochen sind, hat es auch geregnet.« Maerad ließ sich neben Cadvan nieder und ließ sich von Darsor zur Begrüßung die Nase an den Hals drücken, ehe er sich einem Haferbrei zuwandte, den Cadvan für ihn zubereitet hatte. Der große Rappe wirkte völlig unbeeinträchtigt von ihren jüngsten Reisen. Kräftige Muskeln zeichneten sich unter seinem rauen Winterfell ab.
»Ja, ich erinnere mich noch daran.« Cadvan bedachte Maerad mit einem Seitenblick. »Aber ich finde, sonst ist nicht viel unverändert geblieben. Am wenigsten du, Maerad. Hier zu sein erinnert mich an das heimatlose Kind, das du damals warst. Du hast kaum gewagt, den Mund aufzumachen.«
»Es war auch alles sehr beängstigend. Ich dachte, man würde mich hinauswerfen, als festgestellt wurde, dass ich keine richtige Bardin bin.«
»Das bist du in der Tat nicht«, bestätigte Cadvan lächelnd. »Du bist etwas durch und durch Seltsames.«
»Da hast du wohl recht.« Maerad ergriff etwas Stroh und wickelte es nachdenklich um ihren Finger. »Allerdings wünschte ich, eine gewöhnliche Bardin zu sein. Nichts täte ich lieber, als hier zu bleiben, die drei Künste richtig zu erlernen, all die Überlieferungen Annars zu lesen, einfach gewöhnlich zu sein …« Es gelang ihr nicht, die innige Sehnsucht aus ihrer Stimme zu verbannen, und Cadvan schwieg eine Weile.
»All das wünsche ich mir für dich, Maerad«, meinte er schließlich. »Du weißt gar nicht, wie sehr. Und allmählich beginne ich zu glauben, dass auch ich meines rastlosen Lebens überdrüssig werde. Ich frage mich, wie viele Schritte ich seit meiner Jugend wohl schon gewandert bin… Ich vermute, ich hatte nie das Gefühl, das Recht zu haben, mich irgendwo länger aufzuhalten.«
Etwas Derartiges hatte Cadvan noch nie zuvor durchklingen lassen, und Maerad sah ihn überrascht an. Er starrte auf den Boden. Seine Miene wirkte nachdenklich und ein wenig traurig. Im trüben Licht des Stalls erschien er jünger, kaum älter als sie selbst.
»Man sollte meinen, du hast du dir dieses Recht Vorjahren verdient«, sagte sie. »Es ging nie darum, was andere denken«, erwiderte Cadvan mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme. »Das Schwierige ist immer, wie man sich selbst vergeben kann.«
»Vielleicht bist du einfach zu stolz.«
»Ja, findest du?« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Denke ich zu viel an mich selbst?«
»Ich meine schon. Ja, eindeutig. Wenn andere dir vergeben, welches Recht hast du dann, dir selbst nicht zu vergeben? Das ist blanke Eitelkeit.«
Cadvan blickte beinah beleidigt drein, dann jedoch begann er zu lachen. »Ah, Maerad«, sagte er. »Ich glaube, ich sollte dich als mein Gewissen bei mir behalten. Ich fürchte, du hast schmerzlich recht.«
»Immerhin hatte ich recht viel Zeit, dich kennen zu lernen«, erwiderte sie lächelnd. »Wer dich des Stolzes beschuldigt, irrt sich keineswegs.«
»Oder des Hochmuts. Nein, sie irren sich nicht. Vermutlich weißt allein du, wie hart ich daran arbeite, diese Dinge im Zaum zu halten.«
»Andererseits wärst du ohne sie nicht du selbst.«
»Das ist eine Frage des Gleichgewichts. Wie immer. Ich wünschte, es wäre nicht so, dass unsere Fehler so häufig die Kehrseite unserer Tugenden sind.« Er stand auf und streckte sich. »Also, ich weiß
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