Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
als bestünden sie aus Eis. Mit einer Decke um die Schultern kauerte sie am Feuer im Wachhaus und löffelte langsam einen Teller heißen Eintopfs. Cadvan beobachtete sie besorgt wie eine Mutter ein Kind, das gerade den entscheidenden Punkt einer tödlichen Krankheit überwunden hat.
Mittlerweile war es Nachmittag und noch nicht lange her, dass der Landrost sie beinahe zermalmt hätte. Es war knapp gewesen, vermutlich so knapp wie noch nie, und die Nachwehen des Erlebnisses ließen sie immer noch erzittern. Die Angriffe auf Inneil waren völlig zum Erliegen gekommen, als Maerad zusammengebrochen war, und nach einer Weile hatte sich sogar der Sturm außerhalb der Mauern zu legen begonnen. Die Verteidiger konnten mittlerweile ein gutes Stück über die Mauern hinwegsehen, wenngleich noch immer trübes Licht herrschte, das unter finsteren Wolken zu einem frühen Abend hin schwand. Unten war eine Armee von vielleicht zwei- bis dreitausend Gebirgsleuten auszumachen, die sich außer Reichweite der Bogen scharten. Sie sahen frierend und nass aus, und ihr einziger Schutz bestand aus einigen Lederhütten, doch nicht zuletzt das zeugte von grimmiger Entschlossenheit. Von den Werwesen war weit und breit nichts zu sehen, wenngleich man spüren konnte, dass ihre bedrohliche Gegenwart in nicht allzu weiter Ferne weilte.
Als klarwurde, dass sie eine Verschnaufpause errungen hatten, berief Malgorn die Hauptleute zu einem kurzen Rat ins Wachhaus.
»Sie warten auf den Einbruch der Nacht, dann sind die Werwesen am stärksten«, sagte Indik zu den erschöpften Barden. »Und heute Nacht wird es keinen Mond geben… Aber wir haben den ersten Ansturm zurückgeschlagen. Vorwiegend, wie ich glaube, dank Maerad.« Er salutierte ihr mit dem Schwert, und die anderen Barden taten es ihm gleich.
»Und was denkst du, wird bei Einbruch der Nacht geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Indik schlicht. »Ich weiß nur, was immer es sein mag, es wird uns nicht gefallen. Wir haben nicht genug Kämpfer, um sie selbst anzugreifen, und so müssen wir abwarten, was dem Landrost zu tun beliebt. Vorläufig, fürchte ich, haben wir keine andere Wahl.« Kurz schaute er mit einem kühlen, abwägenden Blick zu Maerad; sie stand zitternd am Feuer und wirkte wie ein zerbrechliches Kind. »Und wir sollten uns ausruhen und Kraft sammeln, solange wir können.«
»Das geschieht bereits«, sagte Malgorn. »Ich habe Wachen auf alle Mauern befohlen, und diejenigen, die nicht benötigt werden, ruhen sich aus. Es gibt viele Verwundete …«
»Wie viele Verluste?«, fragte Silvia.
»Vierzig nach der letzten Zählung«, erwiderte Malgorn. »Zwölf davon Barden. Ich habe gerade erfahren, dass Irina ihren Verletzungen erlegen ist.«
Ein kurzes, betretenes Schweigen folgte.
»Vierzig«, wiederholte Indik schließlich mit einem schweren Seufzen. »Der Landrost verschmerzt Verluste in zehnfacher Höhe mit kaum einem Blinzeln, aber wir spüren jeden Toten. Wir sind zu wenige … Und ich fürchte, der Angriff hat noch gar nicht richtig begonnen. Andererseits glaube ich nicht, dass dies eine Schlacht ist, die mit der Kraft der Arme gewonnen werden wird …« Wiederum schwiegen die Barden. Tatsächlich gab es nichts zu sagen. Die Lage war klar: Sie waren zahlenmäßig einem beeindruckenden Gegner deutlich unterlegen, der Streitkräfte heraufbeschwören konnte, die allein Maerad hoffen konnte zu verstehen. Einige Barden schielten zweifelnd zu der zierlichen Gestalt am Feuer und fragten sich, ob überhaupt noch Hoffnung bestand.
Malgorn ersuchte Cadvan, im Wachhaus zu bleiben und eine gedankliche Verbindung mit den um die Mauern der Schule postierten Barden aufrechtzuerhalten. Danach verabschiedeten sich die Barden mit einem Gruß an Maerad, um sich verschiedenen dringenden Pflichten zu widmen oder einfach zu schlafen, solange sie konnten. Maerad hockte mit geneigtem Haupt da und sah die Gesten der Achtung nicht einmal, bis Silvia sich bückte, sie umarmte und auf die Stirn küsste. Nachdem die Barden gegangen waren, wirkte es im Raum sehr still. Maerad fragte sich, welchen Nutzen sie Inneil nun noch bieten könnte. Zuvor hatte sie sich nicht gefürchtet; die Schlacht war ihr nicht schlimmer erschienen als anderes Grauen, dem sie sich bereits gestellt hatte, und sie hatte sich für abgehärtet, für dagegen gefeit gehalten. Nun jedoch hatte sie grauenhafte Angst. Wenn sie an den Augenblick dachte, in dem der Landrost sie bemerkt hatte, und an das, was danach folgte,
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