Die Pelzhändlerin (1. Teil)
und ewig daran erinnern, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin? Solange ich sie sehe, komme ich von meiner Vergangenheit nicht los, kann ich nicht Sibylla werden.
Sie blickte ihre Mutter an, sah die Tränen in ihren Augen, und Marthas Schmerz schnitt ihr ins Herz. Wie schlecht ich doch bin, dachte sie, und Wut und Ärger waren verflogen. Wie gemein und undankbar. Sie hat alles geopfert für mein Glück. Selbst ihr Leben hätte sie für mich gegeben. Niemals kann ich gutmachen, was sie für mich getan hat. Gott weiß, wie gerne ich es täte. Doch sie hat meine Schuld auf sich geladen und mich damit schuldig gemacht. Dadurch sind wir auf immer miteinander verbunden. Und gleichzeitig liebe ich sie, sehne mich nach ihrem Trost, nach ihren mütterlichen Liebkosungen.
Sibylla sagte, so herzlich wie sie konnte: «Ich danke Euch recht schön.» Das war alles, was sie ihrer Mutter in diesem Augenblick geben konnte. Doch es reichte Martha nicht. Sie strahlte Sibylla an und forderte sie auf: «Seht nach, was es ist.«
Sibylla konnte die Freude, die in Marthas Gesicht stand, kaum aushalten und wusste schon jetzt, dass sie sie enttäuschen würde. Doch was konnte sie tun? Der Mutter widersprechen? Ihr die Bitte abschlagen? Nein, die Zunge sollte ihr verdorren, wenn nur ein böses Wort über ihre Lippen drang.
Also wickelte Sibylla das Päckchen aus und erstarrte, als sie die kleine, silberne, billige Halskette mit dem ungeschickt gearbeiteten Medaillon der Jungfrau Maria darin fand. Sibylla wusste, dass dieses Medaillon das Wertvollste war, was ihre Mutter besaß. Wieder hatte Martha sie beschämt, wieder hatte sie ihr ein weiteres Stück Schuld aufgeladen. Sibylla versuchte, das Geschenk zurückzuweisen, doch Martha schüttelte hartnäckig den Kopf.
«Sie gehört Euch. So ist’s der Brauch. Am Tage Eurer Vermählung sollt Ihr sie über Eurem Herzen tragen», beharrte sie und sah Sibylla ernst an. Aus ihrem Gesicht war jedes Lächeln verschwunden.
Sibylla stand da, schwieg, schüttelte stumm den Kopf.
«Eure Mutter hätte es so gewollt», sagte Martha noch, dann drehte sie sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Sibylla starrte auf die Kette und fühlte Tränen in sich aufsteigen.
Christine trat zu ihr, nahm ihr das Medaillon aus der Hand, betrachtete es, wie man den Sandkuchen eines Kindes betrachtet, der an den Rändern bröckelt.
«Wie goldig von der Wäscherin, dir den Familienschmuck zu schenken. Und wie einfältig zu glauben, du würdest dieses Stück zur Vermählung tragen», sagte sie, und in ihren Worten war neben ein bisschen Rührung auch ganz leiser Spott und ein Hauch Verachtung für die Frau aus der Waschküche mit ihrem schäbigen Geschenk.
Sibylla hörte die Zwischentöne in den Worten der Freundin. Wut über die Demütigung ihrer Mutter stieg in ihr auf.
«Gib die Kette her», herrschte sie Christine an und riss sie ihr aus den Händen, verschloss sie in ihrer Faust, presste sie für einen Moment gegen ihr laut klopfendes Herz.
Dann nahm sie das silberne Medaillon, packte es mit unendlicher Vorsicht in eine kleine Schachtel, die mit Samt ausgeschlagen war, und verstaute das Kästchen im hintersten Winkel ihrer Truhe.
Das zwiespältige Gefühl Sibyllas Martha gegenüber wich den ganzen Tag nicht: Nicht in der Kirche, in der Martha einen Platz auf den hinteren Bänken gefunden hatte, während die Zunftmeisterin auf dem Platz der Brautmutter thronte. Nicht beim Festschmaus im Wöhlerhaus, wo Martha am unteren Ende der Dienstbotentafel saß und ihren Blick beinahe ständig auf Sibylla ruhen ließ.
Sibylla hätte ihre Mutter beim Essen gern neben sich gehabt, hätte ihr die zartesten Fleischstücke auf den Teller gelegt, den besten Wein eingeschenkt, ihr die Geschenke der anderen gezeigt, sie umarmt und geflüstert: «Jetzt bin ich das, was du dir immer gewünscht hast: ein ehrbares, anständiges Eheweib.» Sie hätte gern alles getan, um ihrer Mutter diesen Tag des Triumphes so schön wie möglich zu gestalten, denn war es nicht auch so: Erfüllten sich heute nicht ihre Wünsche? Und war sie, Sibylla, es – angesichts der vielen Opfer Marthas – ihrer Mutter nicht auch schuldig, heute strahlender, glücklicher Mittelpunkt zu sein und sie dabei an ihrer Seite zu haben?
Sie saß da, ließ sich hochleben und wich den Blicken der Mutter aus, reichte ihr nur kurz die Hand, während sie eine Umarmung von Barbara, der Magd, duldete. Ja, Sibylla ließ es sogar geschehen, dass Jochen
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