Die Pelzhändlerin (1. Teil)
seinem inneren Auge. Eine Schlafstelle vor dem Herdfeuer. Seine Brüder und Schwestern lagen dort, eng aneinander gekuschelt, um sich gegenseitig zu wärmen. Vater und Mutter lagen etwas abseits und hielten sich umschlungen. Nur er lag allein am anderen Ende des Raumes, nur mit einigen Fellen zum Schutz vor der Kälte. Seit dem Unfall, der seinen linken Fuß und das Bein bis hoch zum Knie entstellt hatte, schlief er allein in dieser Ecke. Seine Geschwister ekelten sich vor ihm; sie empfanden Abscheu. Selbst die Mutter hatte ihn nicht mehr berührt seit dem Tag, als er unter den Wagen des Abdeckers geraten war, der ihm Bein und Fuß zermalmt hatte. Der Abdecker hatte das klapprige Pferd so abrupt zum Stehen gebracht, als er die durchdringenden Schreie des Jungen hörte, dass der Wagen ein wenig zur Seite kippte und die Kadaver der Tiere auf den Verletzten fielen.
Jochen hatte gesehen, wie seine Mutter, der Vater, die Geschwister und Nachbarn herbeigelaufen kamen – und plötzlich stehen blieben, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
«Oh, Gott!» hatte die Mutter geschrien. «Mein Junge ist begraben unter toten Tieren. Oh, Gott! Oh, mein Gott!»
Und Jochen hatte vor Schmerz geweint und gebrüllt, doch niemand hatte ihm geholfen, weil alle der Überzeugung waren, dass tote Tiere vom Teufel besessen waren und dass er auf jeden, der die Kadaver berührte, übersprang. Deshalb gab niemand einem Abdecker die Hand, deshalb musste der Schinder vor den Toren der Stadt hausen.
«Mutter, hilf mir!», hatte Jochen geschrien, doch die Eltern hatten sich nicht bewegt. Endlich war der Abdecker vom Wagen gestiegen und hatte den blutenden Jungen, der vor Schmerzen fast ohnmächtig war, unter Wagen und Tieren hervorgezogen, ein Stück seines Kittels abgerissen und das Bein notdürftig verbunden.
Seitdem hatte ihn niemand mehr berührt, niemand seine Haut gestreichelt, ihn an sich gedrückt. Nicht die Mutter, nicht die Geschwister, niemand, sodass er inzwischen vergessen hatte, wie sich ein anderer Körper anfühlte. Die Felle waren das Einzige, das er seither zum Wärmen hatte, das einzig Weiche, das seine Haut gespürt hatte seit diesem Unfall vor mehr als zwanzig Jahren.
Jochen hörte Schritte auf der Treppe. Christine ging nach Hause. Gleich würde sie hereinkommen und sich von ihm verabschieden. Jochen nahm die Kaninchenfelle vom Tisch und versteckte sie im Lager. Morgen würde er daran weiterarbeiten. Morgen und übermorgen, die halbe oder ganze Nacht lang, denn bis zum Hochzeitstag wollte er das Fellkleid fertig haben.
Wie schön dieser Rubin ist, dachte Sibylla am Morgen der Hochzeit, als Christine ihr beim Ankleiden half und ihr die Kette um den Hals legte. Wie gut er mir steht! Ganz so, als wär er für mich gemacht.
Bewundernd betrachtete sie ihr Spiegelbild, als es an der Tür klopfte und Martha den Raum betrat. Sie streifte Christine, die gekommen war, um Sibylla beim Ankleiden zu helfen, mit einem Blick, der besagte, dass sie die junge Frau als störend empfand. Sibylla bemerkte Marthas Ansinnen zwar, doch sie wusste, dass es seltsam ausgesehen hätte, wenn sie Christine jetzt hinausgeschickt hätte.
Verlegen stand Martha vor den beiden jungen Frauen, beschämt starrte sie auf die wertvolle Kette in Sibyllas Ausschnitt. Sie schluckte und betrachtete ausführlich das Kleid ihrer Tochter.
«Ein schönes Kleid», sagte sie leise und glättete mit der Hand eine kleine Falte. «Es ist das Kleid der Wöhlerin, nicht wahr?» Die Kette würdigte sie mit keinem Wort. Sibylla antwortete nicht. Sie wusste, dass es ihre Mutter schmerzte, sie in dem Kleid einer anderen Frau zu sehen. Doch Christine ergriff an ihrer Stelle das Wort: «Ja, Wäscherin, Sibylla trägt das Kleid ihrer Mutter.»
Martha nickte stumm, dann reichte sie ihrer Tochter ein kleines Päckchen.
«Für Euch», sagte sie leise. «Mein Hochzeitsgeschenk. Ich habe es von meiner Mutter bekommen.»
Sibylla nahm das Päckchen aus Marthas Hand. Irgendetwas in ihr sträubte sich, es zu öffnen. Am liebsten hätte sie geweint, hätte sich in die Arme ihrer Mutter geworfen und an deren Busen geschluchzt, ihr gesagt, wie sehr sie sie liebte – und gleichzeitig wünschte sie sich, Martha wäre in ihrer Waschküche geblieben, eine ferne Zuschauerin der Hochzeit, die nur von weitem die Hand zum beiläufigen Gruß erhebt.
Für einen Moment fühlte Sibylla Zorn in sich aufsteigen. Kann sie mich nicht in Ruhe lassen?, dachte sie wütend. Muss sie mich immer
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