Die Pelzhändlerin (1. Teil)
Christine würde auch das nicht verstehen, nicht Jochens Eigenart, nicht meine Zweigeteiltheit. Doch sie soll keine Angst vor mir haben, soll sich mir ähnlich fühlen. Sehen soll sie, dass wir einander gleichen: zwei junge, ganz normale Kürschnermeistersfrauen mit ähnlichen Wünschen und Ansichten.
«Christine, verstehe doch, wenn ich im Kindbett sterbe, bevor Jochen die Meisterwürde hat, dann kann die Zunft ihm die Würde verweigern. Hat er keine Meisterstochter mehr zur Frau, so hat er alle verbrieften Rechte verwirkt. Wenn es auch so nicht in den Zunftregeln steht, so kann er den Titel doch nicht einklagen. Es wäre unvernünftig, jetzt ein Kind zu bekommen.»
Erleichtert atmete Christine auf. Sibylla war klug, vorausschauend, nicht verrückt. Sie war so normal wie jede andere. So normal wie sie selbst.
«Jetzt verstehe ich auch, warum du jeden Morgen in aller Frühe zur Messe in die Liebfrauenkirche gehst. Nicht, weil du die Eltern so früh verloren hast, wie die anderen sagen», stellte Christine fest, und Sibylla lächelte. Natürlich wusste die Freundin den wahren Grund nicht, konnte nicht ahnen, dass Sibylla Morgen für Morgen auf den kalten Steinplatten kniete und Gott um Vergebung bat für die Sünde, die sie an der wahren Sibylla begangen hatte und die sie von Tag zu Tag mehr quälte. War es die Strafe Gottes, dass sie nicht mehr wusste, wer sie war, seit sie das Wöhlerhaus betreten hatte? War es sein Zorn, der bewirkte, dass sie in sich selbst nicht mehr zu Hause war, zwei Leben lebte, das der Wäscherin und das der Meistersfrau, und doch keines von ihnen richtig? War es Gottes Wille, der ihre Seele in zwei Stücke geteilt hatte? Sibylla wusste es nicht, doch der Drang, eine Person werden zu wollen, trieb sie jeden Morgen erneut in die Kirche.
Christine unterbrach die Gedanken der Freundin, indem sie ihr eine Hand auf den Arm legte und beinahe feierlich sagte: «Ich möchte dich bitten, Patin meines ersten Kindes zu werden, Sibylla.»
Sibylla stand auf, nahm die Freundin in die Arme und küsste sie sanft auf die Wange. «Ich werde mich bemühen, deinem Kind eine gute Patin zu sein», schwor sie.
Kapitel 6
Auch Martha machte sich Sorgen, dass Sibylla noch immer rank und schlank war, kein Zeichen von Schwangerschaft ihren Körper veränderte.
Ich werde sie fragen müssen, dachte Martha, als sie an einem Morgen neben Sibylla unten am Mainufer stand, um die großen Betttücher zu waschen, für die die Zuber zu klein waren. Sie waren allein am Fluss, kein Mensch war weit und breit zu sehen.
Ich werde sie fragen, obwohl sie mir fremd geworden ist. Immerhin bin ich ihre Mutter, werde es immer bleiben, auch wenn sie nicht mehr meine Tochter ist.
Martha warf Sibylla aus den Augenwinkeln einen nachdenklichen Blick zu: Aber Sibylla ist sie auch nicht geworden. Sie verweigert sich, will in ihrem Eigensinn weder die Alte sein noch die Neue werden.
«Warum bist du noch nicht schwanger?», fragte sie Sibylla schließlich. «Warum hältst du dich von den anderen Frauen fern? Einzig die Geithin kommt zu Besuch, die anderen aber habe ich noch nie im Haus gesehen. Warum benimmst du dich nicht so, wie sich Sibylla benommen hätte? Warum ist die Wiege noch leer?»
Sibylla wich dem Blick der Mutter aus. «Kinder haben noch Zeit. Ich muss mich erst eingewöhnen.»
Martha richtete sich auf, stemmte die Arme in die Hüften.
«Wie lange denn noch? Du bist jetzt eine verheiratete und anständige Frau. Willst du wieder ins Gerede kommen, weil du unbedingt etwas anderes machen musst als alle anderen? Hast doch jetzt, was du willst. Also mach, was alle machen.»
«Ich kann nicht, Mutter», erwiderte Sibylla leise. «Ich habe meinen Platz noch nicht gefunden.»
«Deinen Platz noch nicht gefunden!», zischte Martha jetzt. «Was willst du denn? Bist jetzt bald Meistersgattin, das ist dein Platz. Hast eine einmalige Gelegenheit bekommen, ein neues Leben zu führen, und suchst nach einem Platz? Bist du von Sinnen?»
Auch Sibylla hatte sich nun aufgerichtet, blickte ihrer Mutter gerade in die Augen und sagte fest: «Sibylla Theiler bin ich nur nach außen. Mich selbst muss ich noch finden.»
Martha sah den trotzigen Mund Sibyllas, die vor der Brust verschränkten Arme. Alles an ihr schien Verweigerung zu sein. Wollte sie alles kaputt machen? Den Scheiterhaufen hatte Martha in Kauf genommen, ihre Ersparnisse aufgebraucht. Aber doch nicht, damit das Mädchen sich hinstellte und alles kaputt machte, weil sie meinte, sich
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