Die Pelzhändlerin (1. Teil)
schließlich. «Möchte mehr erreichen. Zunftmeistersgattin will ich werden. Wenigstens das. Wünschst du dir nichts?»
«Nichts, nein. Fast nichts», erklärte Jochen. «Ich habe mehr, als ich je zu träumen gewagt habe.»
Er trat auf Sibylla zu und legte ihr den Arm um die Schultern.
«Mach dir keine Sorgen, Sibylla. Du wirst sehen, die Zunft wird mir die Meisterwürde geben. Die Stücke sind gute Handwerksarbeit.»
«Ja», stöhnte Sibylla. «Ja, das weiß ich. Aber Zunftmeister oder Ratsherr wirst du auf diese Art niemals werden.»
Sie wand sich aus Jochens Arm und verließ die Werkstatt.
Unruhig lief sie im Wohnzimmer hin und her. Sie war nicht nur über den Zobel verärgert, sie war überhaupt unglücklich, und das schon seit längerem.
Ein Dreivierteljahr war seit der Hochzeit vergangen. Ein Dreivierteljahr, in dem sie mit Christines Hilfe alles gelernt hatte, was eine Meistersfrau wissen musste. Sie waren gemeinsam auf dem Markt gewesen und hatten mit kritischen Blicken jedes Stück geprüft, bevor sie es kauften. Christine hatte ihr die kleinen Schönheitsmittelchen verraten, die es gab, um das Haar glänzender, die Lippen roter und die Haut strahlender zu machen. Sie waren freitags und sonntags in der Kirche gewesen und hatten mit den anderen Meistersfrauen den neuesten Klatsch ausgetauscht. Und am Sonntag waren sie mit den Ehemännern gemeinsam am Main spazieren gegangen und hinterher in einer Wirtschaft eingekehrt. Sie hatte das normale Leben einer Meistersfrau kennen gelernt, wusste um die kleinen Tricks und Kniffe, die vielen ungeschriebenen Regeln und Gesetze, beherrschte die Sprache und kannte die Themen, um die es sowohl zwischen Frauen als auch zwischen Männern ging. Doch sie war der wahren Sibylla nicht näher gekommen. Stattdessen begleitete sie die Tote wie ein Schatten. Mit dem Unterschied, dass sie ihn tagsüber vergessen konnte, doch nachts in ihren Träumen war die wahre Sibylla immer da und erinnerte sie daran, wer sie wirklich war. Ein Niemand, ein Nichts ohne eigene Vergangenheit. Eine Gauklerin war sie, eine schlechte Kopie. Alles andere als eine eigene Person. Nein, Sibylla hatte nicht geglaubt, dass es so verflucht schwer sein würde, in die Haut einer anderen zu schlüpfen. Früher war sie wenigstens Wäscherin gewesen, jetzt war sie nicht einmal mehr das. Ein Zwischending war sie, ohne Namen, ohne Vergangenheit, ohne irgendeinen Platz in der Welt. Nur wenn sie das Fellkleid trug, war sie sie selbst.
Aber ich werde es schaffen, dachte Sibylla und erinnerte sich an ihren Schwur in der Kirche. Ich werde einen Platz finden, mich selbst finden. Doch um das zu erreichen, musste sie der Toten entfliehen, sie hinter sich lassen, etwas erreichen, zu dem die wahre Sibylla nicht imstande gewesen wäre. Wenn sie Zunftmeistersgattin wäre, dann, so glaubte Sibylla, konnte sie ihr entkommen.
Sie war nicht wie Christine, die nun ganz und gar in der Säuglingspflege aufging. War nicht so rund, zufrieden, süß und genügsam. Und sie war auch nicht wie anderen, denen es ausreichte, dass der neueste Stadtklatsch ein bisschen Abwechslung in ihren Alltag brachte. Die zufrieden waren mit den stets gleichen Freuden und Pflichten, den banalen kleinen Höhepunkten, die es nicht verdienten, so genannt zu werden. Die dabei unzählige Kissen und Deckchen bestickten und Dutzende von Kindern bekamen, bis sie starben.
Nein, das war nicht das Leben, das Sibylla sich wünschte. Sie konnte nicht sein und leben wie alle anderen Meistersfrauen – und gleichzeitig wollte sie nichts lieber als das. Die Wäscherin in ihr, der rechtlose Bastard und der Schatten der Toten waren es, die mehr wollten, die sie antrieben. Aber wohin? Wie sah dieses «Mehr» denn eigentlich aus? Was war ihr Ziel?
Es war verrückt. Einerseits wollte sie der toten Sibylla aufs Haar gleichen, wollte die sein, die sie gewesen wäre, hätte ihr der Tod nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und andererseits wollte sie eine eigene Person sein, unabhängig und frei von ihrer Herkunft und Vergangenheit. Die Normalste der Frauen wollte sie sein und sich gleichzeitig von ihnen abheben, etwas Besonderes sein, das sich von der toten Sibylla vollkommen unterschied. Aber was? Sich ausdrücken wollte sie. Aber wie?
Das Schicksal – oder der Zufall – hatte Sibylla in eine Kürschnerei geführt und sie Meisterin werden lassen. Das war ihr Platz. Hier musste sie anfangen. In den Pelzen konnte sie ihre eigene Persönlichkeit ausdrücken.
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