Die Pelzhändlerin (1. Teil)
Sie würde Stücke schaffen, die jedem auf Anhieb zeigten, dass sie besonders, dass sie einmalig waren.
Aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Mit einem Mann wie Jochen? Einem Mann, der zwar ein gutes Geschick hatte, aber keinerlei Ehrgeiz, keinen Drang, Neues zu schaffen. Ihn bei seiner Handwerkerehre packen? Nein, vergebliche Liebesmüh. Er verstand darunter ordentliche, solide und pünktliche Arbeit. Einwandfreie Waren zu ehrlichen Preisen. Keine Kunststücke, keine Abenteuer, nichts Einmaliges.
Nein, dachte Sibylla, es hat keinen Zweck, auf Jochens Stärken zu setzen. Einen Mann wie ihn musste man bei seinen Schwächen packen. Aber wo lagen Jochens Schwächen? Er war so ehrbar, so rechtschaffen, so himmelschreiend gut, dass es sie manchmal fast erstickte. Habgier war ihm fremd, Neid kannte er nicht, Macht ließ ihn kalt. Gütig war er, verständnisvoll, stets gut gelaunt und ausgeglichen; hielt sich mit nur einer Ausnahme an alle Regeln, fiel niemals auf – und unangenehm schon gar nicht.
Sie stockte, die Geschichte von Kain und Abel fiel ihr ein. Ja, das war es. Sie war Kain, trug das Mal des Brudermordes nicht auf der Stirn, sondern im Herzen.
Sie dachte an das Verbrechen, das sie begangen hatte, um Meistersgattin zu werden. Sie war vielleicht nicht schlechter als Jochen. Doch er war nicht schuldig geworden, hatte sich nicht ein Leben erschlichen, das nicht seines war. Deshalb fühlte sie sich stets schlechter als er, schlechter als Christine und als alle anderen. Außer Martha vielleicht, die die gleiche Schuld trug wie sie, von der sie stets an ihr Verbrechen erinnert wurde, sobald sie sie sah. Wenn sie doch mit irgendjemandem darüber sprechen könnte! Sich erleichtern, ihr Herz ausschütten, Vergebung erlangen. Sich nur einem einzigen Menschen offenbaren, sich zeigen, wie und wer sie wirklich war. Die täglichen Gespräche mit Gott am Morgen in der Kirche reichten nicht mehr aus.
Doch natürlich würde kein Sterbenswörtchen je über ihre Lippen kommen. Noch nicht einmal im Beichtstuhl hatte sie darüber gesprochen, obwohl dies wohl der einzige Ort auf Gottes Erden war, an dem sie ihre Schuld bekennen und vielleicht sogar Vergebung dafür erlangen könnte.
Sibylla wischte die Gedanken weg. Sie war eine verheiratete, ehrbare Frau, erhaben über jeden Verdacht. Niemand wusste von dem Betrug – einzig Martha. Es nützte gar nichts, sich darüber Gedanken zu machen. Was geschehen war, war geschehen. Und sie würde es wieder tun, wäre sie noch einmal vor dieselbe Wahl gestellt.
Außerdem ging es jetzt nicht um ihre Schwächen, sondern darum, Jochens herauszufinden. Sibylla lief hin und her, zermarterte sich das Hirn und war schon beinahe dran, ihren Gatten heilig sprechen zu lassen, als ihr seine ausgeprägte Sparsamkeit einfiel. Ja, wirklich, Jochen sparte an allen Ecken und Enden. Gab es auf dem Markt ein Brot vom Vortag, welches nur die Hälfte kostete, so wusste Sibylla, dass Jochen selbstverständlich dieses kaufen würde, mochten die frischen auch noch so verführerisch duften. Wachslichter brannten nur zu besonderen Feiertagen, und das abendliche Bier, das den Gesellen zustand, war nicht gerade von der kräftigsten Sorte.
Ja, dachte Sibylla. Wenn es einen Weg gab, Jochen dazu zu bringen, etwas Neues zu wagen, dann nur über seine Sparsamkeit. Aber wie sparte man an Pelzen?
Sie musste nachdenken. Und die besten Einfälle hatte sie noch immer, wenn sie an der frischen Luft war.
Sibylla verließ das Wohnzimmer und ging hinunter in die Werkstatt.
«Ich brauche ein bisschen Frischluft», erklärte sie und schlüpfte in ihren Umhang. «Gibt es eine Besorgung, die ich für dich erledigen kann?»
Jochen stand am großen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes und legte Ziegenfelle für einen einfachen Umhang zurecht. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: «Du könntest in die Gerberei gehen und nachsehen, wie lange unsere Felle noch in der Beize brauchen.»
Sibylla zögerte. Sie ging nicht gerne in die Gerberei, nicht nach dem, was ihr dort vor einiger Zeit passiert war. Sie hatte sogar regelrecht Angst davor. Doch wie sollte sie ihre Weigerung Jochen gegenüber begründen?
«Gut», erwiderte sie und machte sich seufzend auf den Weg.
Sie lief durch die Straßen hinunter bis zum Main. Ihre Anspannung nahm mit jedem Schritt zu. Schließlich erreichte sie die Gasse der Gerber. Der Gestank raubte ihr schier den Atem. Sibylla wusste, woher er rührte. Sachs, der Gerber, hatte es ihr erklärt,
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