Die Pension am Deich: Frauenroman
bekommen, das weiß sie aus Erfahrung. Spätestens nach einem Tag geht es ihr dort oben besser. Wie dumm von ihr, dass sie nicht jedes Jahr den kompletten April an der See verbringt. Warum eigentlich nicht? Anne schüttelt über die Naivität ihrer eigenen Fragestellung den Kopf. Warum wohl nicht? Weil sie alleinerziehende Mutter ist und eine Fünfzehnjährige sich zwar erwachsen fühlt, es aber nun einmal nicht ist. Vielleicht kann ich im nächsten Jahr länger wegfahren, überlegt Anne. Dann ist Lisette schon sechzehneinhalb. Im gleichen Augenblick, in dem sie das denkt, überkommen sie Zweifel. Unvorstellbar, ihre Tochter einen ganzen Monat allein zu lassen. Doch wer weiß? Ein Jahr ist lang. Bis dahin findet sie sich vielleicht mit der Tatsache ab, bald eine erwachsene Tochter zu haben. Hier am Bahnhof zwischen lauter Reisenden erscheint ihr eine Trennung leicht. Viel leichter als zu Hause, wenn sie vor der Entscheidung steht: Fahre ich oder fahre ich nicht? Sie muss nur erst einmal loskommen, die Haustür hinter sich schließen. Dann fühlt sie sich unbelastet und frei. Anne lächelt. Mit so einem klaren Kopf würde sie wunderbar schreiben können.
Daheim hat sie immer, ob sie will oder nicht, organisatorische Gedanken im Hinterkopf. Angefangen mit der öden Überlegung: Was koche ich heute Mittag? Anne kocht ausgesprochen gern, wenn sie neue Rezepte mit besonderen Zutaten ausprobieren kann. Aber diese regelmäßigen Routinemahlzeiten gehen ihr auf die Nerven. Dazu kommt der Schwierigkeitsgrad, dass Lisette vieles nicht mag. Diese fehlende Experimentierfreude in ihren Essgewohnheiten passt eigentlich gar nicht zu ihrer Tochter. Sie ist ansonsten das Gegenteil von eintönig. Aber es sind höchstens zehn Gerichte, von denen Anne ausgehen kann, dass Lisette sie mag. Wenn sie ihr etwas anderes vorsetzt, mault sie zwar nicht. Sie isst klaglos ihr langweiliges Käsebrot. Es wäre einen Test wert zu beobachten, wann es ihr zum Hals herauskommt. Leider kann Anne das nie länger als zwei Tage mit ansehen, ohne sich als Rabenmutter zu fühlen. Und es gibt wieder ein Lisette-Leibgericht.
Anne hat Glück. Ein Waggon der S-Bahn nach Hannover ist fast leer. Die freien Sitzreihen verbreiten eine leise Melancholie. Anne mag das Gefühl. In diesen Augenblicken trauert sie keinem Führerschein hinterher.
Wenn es Bindfäden regnet, ihr kalter Schnee ins Gesicht fällt oder der Bus vollgestopft ist mit Menschen und ihren Aggressionen, dann schon. Dann wünscht sie sich, unabhängig zu sein und einen eigenen Kleinwagen zu besitzen.
Um sich sofort wieder zu trösten, dass sie durch die öffentlichen Verkehrsmittel nah am Geschehen bleibt. Deshalb liest sie auch während der Fahrt nichts. Sie sitzt still da und saugt die Stimmungen um sich herum auf. Hört fremden Gesprächen zu. Dabei denkt sie sich oft eine Hintergrundgeschichte aus und überlegt, in welcher Beziehung diese Menschen wohl zueinander stehen könnten. Oder welchen Beruf sie ausüben, in was für einem Leben sie stecken.
In Springe steigen einige Fahrgäste zu, und die Sitzreihen füllen sich. Schade. Heute wäre Anne liebend gerne allein geblieben. Sie schaut aus dem Fenster. Die weichen Höhenzüge des Deisters und die breiten Felder leuchten in einem frischen Grün. Die Natur holt den verspäteten Frühlingsanfang in Riesenschritten auf. Anne hinkt ihm trotz Ausbruch ihrer alljährlichen Allergie, ein ganz offensichtliches Frühlingssignal, hinterher. Dieses Jahr ist die graue Zeit zwischen den klaren Farben des Winters und den zarten Pastelltönen des Frühlings übersprungen worden. Es fehlt dieses langsame Hinpendeln zu milderen Temperaturen. Es ist einfach warm geworden, als hätte jemand einen Schalter angeknipst. Anne hätte nie geglaubt, dass ihr die triste Übergangszeit fehlen könnte.
In Weetzen steigt nur eine Frau zu. Sie ist genau wie Anne schwarz gekleidet. Dennoch trennen sie Welten voneinander: Während Anne mit ihrer legeren Hose, dem schlichten Pullover und ihrer offenen Lockenpracht eine mädchenhaft anmutende Ausstrahlung hat, umgibt die Zugestiegene die Aura einer Grande Dame. Sie steckt in einem schmal geschnittenen, perfekt sitzenden Kostüm. Ihr dunkles Haar ist straff zurückgebunden. Sie wirkt sehr elegant und stolz. Wie eine Spanierin, denkt Anne, und ihr Blick fällt auf die gediegene Aktentasche. Nein, eine Geschäftsfrau, korrigiert sie sich. Vielleicht eine spanische, lächelt sie in sich hinein.
Die Frau setzt sich auf die
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