Die Pension am Deich: Frauenroman
äußerste Kante eines Sitzes. Angespannt. Wie zum Sprung bereit. Dann zieht sie ein zierliches Handy aus der Jackentasche und klappt es auf. Anne verdreht die Augen. Gleich wird sie das übliche Geschäftskauderwelsch über sich ergehen lassen müssen. Die Dame sieht nicht aus, als würde sie ihren Liebhaber anrufen. Das passt nicht zu ihrem Aussehen und nicht zu ihrer Pose.
Wie Anne vermutet hat, klingt die Stimme der Frau kräftig und dunkel. Allerdings ohne spanischen Akzent. Sie spricht lupenreines hochdeutsch. Und sie regelt keine Aktienan- oder verkäufe. Sie erklärt ihrem Gesprächspartner haargenau, wo im Haus die Sporttaschen ihrer Kinder parat stehen. Fertig gepackt für das abendliche Handballtraining. Daneben noch eine andere Tasche mit Wechselwäsche, denn sie sollen für diese Nacht außerhäusig schlafen. Am nächsten Nachmittag müssen die Kinder zum Schwimmunterricht gebracht werden. Dafür sind ebenfalls Rucksäcke vorbereitet. Die Frau zögert. Dann entschuldigt sie sich. Im Erdgeschoss sei alles tipp topp, aber oben in den Schlafräumen … Dort habe sie es nicht mehr geschafft, Ordnung zu machen. Also, man sollte sich nicht wundern. Sie bedankt sich in Voraus für die Betreuung und verabschiedet sich.
Danach telefoniert sie noch einmal. Bei demjenigen vergewissert sie sich, ob die Abholzeiten ihrer Sprösslinge richtig aufgeschrieben wurden.
Anne sieht wieder aus dem Fenster. Hat sie schon jemals einen Mann auf einer Geschäftsreise die Unterbringung und Versorgung seiner Kinder delegieren gehört?
Nein.
Hätte sie dieser Frau zugetraut, dass sie sich für nicht geputzte Räume entschuldigt?
Nein.
Und hat sie jemals so eine in ihren Romanen beschrieben?
Nein.
Ihre Heldinnen sind jünger. Zu jung. Anne kann ihnen mittlerweile nicht mehr authentisch hinterherfühlen. Das weiß sie und hält doch mit stiller Verbissenheit an ihnen fest. Nein, nicht verbissen. Verzweifelt ignorierend. Das sieht leider nicht nur Lisette so. Auch Charlotte, ihre Lektorin, versucht ihr neuerdings liebevoll klar zu machen, dass sie ihre Bücher schon zu lange nach dem gleichen Muster schreibt. »Schau dich mal nach lebensnahen Frauenfiguren in deiner Umgebung um. Sonst ist es eine Frage der Zeit, dass Linda Loretta tot ist.«
Anne stöhnt leise auf und betrachtet die fremde Mitreisende aus den Augenwinkeln. Sie hat ihr Handy weggesteckt und lehnt sich kaum merklich zurück. Ihr Blick geht ins Leere. Sie wirkt konzentriert. Ob sie auch keinen Partner hat und deshalb alles allein organisieren muss? Oder ist sie gerade wieder ins Berufsleben eingestiegen und hat ihre Lieben bislang zu sehr verwöhnt?
Anne hatte nur für kurze Zeit so etwas wie eine Familie. Mutter, Vater, Kind. Drei Jahre hat sie mit Kees-Jan zusammengelebt, ihrem niederländischen Maler. Sie hat mit ihm auf seinem Hausboot im Herzen von Amsterdam gewohnt. Mein Gott, war sie damals verliebt in Kees-Jans ansteckende Leichtigkeit, das Leben zu nehmen, es zu einer einzigen großen Feier zu machen. Sie war süchtig nach seinem charmanten Akzent und seinem Lachen. Sie liebte ihn und Amsterdam. Das jugendliche Flair dieser Stadt, die kein Alter kennt. Einfach unbeschwert und jung ist und bleiben will. Überall lebten Künstler. Lebenskünstler. Als Kees-Jan fragte, ob sie zu ihm ziehen wollte, zögerte sie keinen Augenblick und ließ zu Hause alles stehen und liegen.
Ihre Eltern hatten ihr das sehr übel genommen. Mittlerweile kann Anne sie sogar verstehen. Sie kam aus kleinen Verhältnissen, und es war ihnen nicht leicht gefallen, ihr das Studium zu ermöglichen. Danach hatten sie gehofft, eine Lehrerin in der Familie zu haben.
Nach zwei Jahren wurde Lisette geboren. Kees-Jans Zauber, seine Kunst, den Augenblick zu genießen, ohne an die Zukunft zu denken, verlor auf Anne seine magische Wirkung. Sie fühlte sich mit der Verantwortung für ihr Baby alleingelassen. Kees-Jan war einfach nicht zu greifen. Sie wusste nie, was er plante oder ob er sich überhaupt irgendwelche Gedanken machte. Wenn sie ihn festnageln wollte, ihn zwingen, mit ihr die nächste Zukunft ein wenig zu besprechen, wurde er wütend. Ihr Strukturverlangen ersticke seine Kreativität. Seine nordische Elfe, seine bezaubernde Muse, würde sich zusehends in eine Spießerin verwandeln, warf er ihr vor.
Aber finanziell und emotional von der Hand in den Mund zu leben, damit konnte sich Anne nicht mehr arrangieren. Die Ungewissheit machte ihr Angst. Die Angst war schließlich größer
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