Die Pension am Deich: Frauenroman
als ihre Liebe zu Kees-Jan, und sie zog die Konsequenzen. Sie packte ihre Koffer und kehrte mit ihrer kleinen Tochter nach Deutschland zurück.
Lisette war ein Jahr alt, und Anne stand im Grunde ohne einen Beruf da. Um ihr Anerkennungsjahr nachzuholen, hätte sie bei ihren Eltern zu Kreuze kriechen und bei ihnen einziehen müssen. Es reichte schon, im Gesicht ihrer Mutter zu lesen: Das hätte ich dir vorher sagen können. Anne wollte und konnte nicht bei ihnen leben und sich die tägliche Litanei anhören. Dazu war sie zu tief verletzt.
Anne mietete sich eine winzige Wohnung in der Deisterstraße in Hameln und lebte von Heimarbeit und vom Sozialamt. Der Ehrlichkeit halber, auch von Kees-Jan. Er hat den Unterhalt immer gezahlt, das muss sie ihm lassen. Einmal im Jahr lädt er Lisette zu sich in die Ferien ein. Seit drei Jahren ist er verheiratet und hat noch ein Kind. Als Lisette ihr das berichtete, hat es Anne zum zweiten Mal fast das Herz gebrochen. Warum war er plötzlich bindungsfähig? Warum tötete eine juristisch beurkundete Beziehung nicht mehr seine Kreativität? Denn seiner Künstlerseele hat die eheliche Bindung offensichtlich nicht geschadet. Kees-Jans Bilder sind mittlerweile bekannt, und seine Vernissagen Highlights in der Szene.
Ausgerechnet beim Zahnarzt fiel Anne die Stellenausschreibung einer Frauenzeitung in die Hände. Sie suchten jemanden, der Leserbriefe beantwortet. Nichts Berauschendes, aber alles war besser, als Ringreiter für Waagen zu drehen. Eine Sisyphusarbeit. Anne bekam die Stelle und wurde mit Hingabe die Zeitungskummertante Linda Loretta. Als plötzlich zu wenige Briefe in der Redaktion eintrudelten, sah Anne ihren Job in Gefahr. Sie ergriff die Initiative und schrieb sich die Fragen einfach selbst. Das kam richtig gut an, und die Kolumne war recht erfolgreich. Sie gaben ihr die Möglichkeit, einmal im Monat »Die wahre Geschichte aus dem Leben« zu schreiben. Kleine Liebesgeschichten. Die flossen Anne nur so aus der Feder. Da bekam sie einen Anruf von einem Verlag. Charlotte, ihre jetzige Lektorin, motivierte sie, einen Roman im Stil ihrer Kurzgeschichten zu verfassen. Anne machte sich an die Arbeit. Ihr erster Roman »Der neue Nachbar« erreichte sofort das Verkaufszahllimit, und seitdem gibt es die Reihe Linda Loretta. Und nun soll alles vorbei sein? »Nicht vorbei«, hatte Charlotte über ihre Ängste gelacht. »Nur anders. Lass dich doch einfach drauf ein.«
Der Zug rollt im Hauptbahnhof Hannover ein. Anne und die Frau stehen gleichzeitig auf. Überrascht stellt sie fest, dass sie fast gleich groß sind. Das passiert Anne bei ihrem Gardemaß von Einsvierundachtzig selten. Sie lächelt die Fremde an, sie erwidert es nicht. Ihre konzentrierten Gesichtszüge wirken abweisend streng. Vielleicht stimmt sie sich auf eine wichtige Besprechung oder einen Vortrag ein. Dafür muss sie sich zwingen, alle störenden Gedanken abzuschütteln. Ihre Sorge vergessen, ob ihre Kinder pünktlich nach dem Sport abgeholt werden. Ob sie ihre Wechselwäsche dabei haben, sich nach dem Schwimmen duschen, richtig abtrocknen und genug trinken. Das ist jetzt alles unwichtig. Gleich hat sie beruflich zu funktionieren.
Anne bleibt für einen kleinen Moment zwischen den eilig wegstrebenden Reisenden stehen und sieht der Frau hinterher. Vielleicht bist du ein guter Anfang für eine Geschichte. Warum nicht eine über Liebe?
Kapitel 5
Monika und Frank reisen mit dem Auto von Hannover ins Wangerland an die Nordsee.
Hinter dem Walsroder Kreuz lichtet sich der Verkehr. Obwohl Frank am Steuer sitzt und nicht zu riskanten Manövern neigt, atmet Monika auf. Sie hasst es, in einer dreispurigen Blechlawine zu stecken und dem unberechenbaren Verhalten anderer ausgeliefert zu sein. Dieses waghalsige Wechseln der Spuren, diese Jagd nach einer Lücke, die fast immer schlicht und einfach der Sicherheitsabstand umsichtig Fahrender ist. Monikas Erleichterung währt nur kurz, denn mit der Entspannung wird die Stille im Auto greifbar. Zum Glück läuft das Radio.
»Du bist so schweigsam«, kommentiert Frank blöderweise die Situation. Warum sie? Wir sind beide schweigsam, denkt Monika.
»Ich habe super schlecht geschlafen«, weicht sie dennoch schwach lächelnd einer ehrlichen Antwort aus. Fast im gleichen Augenblick ärgert sie sich. Warum übernimmt sie wie selbstverständlich die Verantwortung für die fehlende Unterhaltung?
»Du schläfst vor jeder Reise schlecht«, lacht Frank leise. Die Erklärung
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