Die Perlenzüchterin
nomadischen Gesellschaften sei der Meisterfärber eines Stammes ein kleiner König gewesen. Die Aborigine-Frauen horchten auf, als Leila von der geheimnisvollen Aura erzählte, die diese Tränke und Farben umgab, und von dem alten Glauben, dass man damit Zauber bewirken könne. Als man auf die Macht der Geisterwelt zu sprechen kam, hatten die Frauen ein gemeinsames Thema. Und dann entspann sich zu Samis Entzücken ein herrliches, immer wieder von Kichern unterbrochenes Gespräch darüber, wie man Männer anlocken und mit welchen sexuellen Praktiken man sie an sich binden könne, oder wie man am besten eine Rivalin loswerden würde.
Sie gingen langsam, blieben immer wieder stehen, um ein Ameisennest, die Blüte an einem Kapokbaum oder einen Schwarm mit Hunderten von Wellensittichen zu betrachten, die in einer smaragdgrünen Wolke dahinflogen. Als sie wie ein einziger Vogel die Richtung wechselten, blitzte es rot auf. Von den kleinsten, scharfen Spinifexhalmen bis zu einer Felsformation in der Ferne, die wie eine sonnenbadende Eidechse aussah, war alles und jedes, was die Natur hervorgebracht hatte, von Interesse. Alles schien einzigartig, bedeutsam und nicht von dieser Welt zu sein und die Frauen erzählten Sami ihre dazugehörigen Träume. Sie hatte vorübergehend das Gefühl zu halluzinieren. Wie durch ein Vergrößerungsglas nahm sie die Dinge in ihrer ganzen Intensität und Leuchtkraft wahr.
Sie blinzelte und kehrte gerade wieder in die Gegenwart zurück, als Leila an einem kleinen Baum stehen blieb. Er war statt mit Blättern mit scharlachroten sternförmigen Trichterblüten bedeckt. Leila fragte Gussie: »Was ist das für eine Blume? Ich kenne sie. Bei uns heißt sie die Wüstenrose.«
»Das ist die Kimberley-Rose«, verkündete Gussie.
Leila streichelte die Blume sehr behutsam. »Die Rose gehört zu meiner Geschichte … der Geschichte von Leila und Madschnun. Sie ist auch auf meinem Teppich: das Rosen-Gül.«
Sami versuchte, aus dem zärtlichen Gesichtsausdruck die Gefühle herauszulesen, welche die kleine Wüstenpflanze bei Leila heraufbeschworen hatte. Sie sah Erleichterung, Ungläubigkeit und Trauer. »Setzen wir uns doch bei den Felsen in den Schatten, dann können Sie uns die Geschichte erzählen. Sie scheint Ihnen viel zu bedeuten.«
Gussie gesellte sich zu ihnen, als sie es sich im Sand bequem machten. Die großen gelben und roten Felsblöcke hatten vor etwa zwei Millionen Jahren auf dem Grund des riesigen Meeres gelegen, das damals diese ungeheure Wüste bedeckt hatte. Die anderen Frauen zogen weiter, auf der Suche nach Material für ihre Kunstwerke. Leila begann …
Eure Geschichten beginnen mit »Es war einmal …« Es waren also einmal ein junges Mädchen Leila und ein junger Mann, Madschnun. Und es begab sich, dass Leila und Madschnun sich in der Schule kennen lernten. Sie verliebten sich sogleich ineinander. Madschnun stürzte des Morgens früh zur Schule, um sie zu sehen. Leila schrieb seinen Namen immer wieder überall auf ihre Schiefertafel. Die Lehrer waren besorgt, weil die beiden ihre Studien vernachlässigten, und sprachen mit den Eltern. Man nahm Leila von der Schule, und schließlich mussten auch Madschnuns Eltern ihren Sohn von der Schule nehmen, weil er so abgelenkt war. Seine Eltern zogen Ärzte, Wahrsager, Heiler, Magier hinzu und legten ihnen Geld zu Füßen. Sie fragten sie, ob es irgendein Heilmittel gebe, das den Gedanken an Leila aus Madschnuns Herz reißen würde. Doch wie sollte das gehen? Es gibt keine Heilung für die Liebeskranken.
Sie nahmen Madschnun mit auf eine Wallfahrt nach Mekka. Als sie sich der Kaaba näherten, versammelte sich eine Menschenmenge, um sie zu sehen, denn sie hatten von der großen Liebe Madschnuns zu Leila gehört. Seine Eltern beteten, das Herz ihres Sohnes möge von der Qual dieser Liebe erlöst werden, damit er sich auf seine Studien konzentrieren konnte. Schließlich sandten sie Leilas Eltern, die einem anderen Glauben anhingen, eine Nachricht: »Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht, um die Sehnsucht nach Leila von Madschnun zu nehmen, doch ohne Erfolg. So bitten wir Euch um Euer Einverständnis zur Hochzeit.«
Leilas Eltern antworteten: »Auch wenn es uns die Verachtung unseres Volkes eintragen sollte – weil Leila Madschnun auch nicht für einen einzigen Augenblick vergessen kann, werden wir sie ihm zur Frau geben. Wir möchten ihn kennen lernen und uns davon überzeugen, dass er ein guter, vernünftiger Mann
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