Die Perlenzüchterin
das Gefühl, dass hier etwas Ungeheuerliches geschah.
»Ich habe meinen Teil getan. Wie gesagt, ich habe einen weiten Weg und einen langen Tag vor mir. Die richtigen Leute sind jetzt jeden Augenblick da, das ist mal sicher.« Er ging auf sein Auto zu, blieb dann noch einmal stehen und drehte sich zu Lily um. »Wissen Sie, dieses kleine Straßenrennen zwischen Schwarzen und Weißen ist ziemlich typisch für das, was hier in der Gegend die ganze Zeit unter der Oberfläche brodelt. Die Leute versuchen, es unter den Teppich zu kehren, und sind dabei ziemlich erfolgreich. Aber das wird immer wieder ausbrechen, wie heute. Es geht gar nicht anders.« Er stieg in sein Auto und fuhr davon, ohne zurückzublicken.
Lily war wie betäubt von dem Verhalten des Mannes, doch als Eugene sich ächzend aufsetzen wollte, wandte sie ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zu. »Ich habe dich bei Rosie gesehen, als du Biddy besucht hast. Du heißt Eugene, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nur ruhig, Eugene. Halt durch, Hilfe ist unterwegs.« Sanft streichelte sie ihm übers Gesicht, dann legte sie seine Hand auf dem Druckverband über ihre Hand. »Lass deine Hand hier liegen, drück einfach leicht darauf. Ich muss mal nach den anderen sehen.«
Der weiße Junge, der am Straßenrand gesessen hatte, war in die Büsche gelaufen. Simon stand mühsam auf. »Verdammte dämliche Abos. Die dürfte man nicht hinters Steuer lassen.«
»Simon, jetzt mal halblang. Was ist denn passiert?« Lily riss sich zusammen.
Er zögerte mit der Antwort und sah sich nach seinem Kumpel um. »Ach, Keith hatte ziemlich … war ziemlich geladen. Wir waren mit ein paar Mädels unterwegs und auf dem Weg nach Hause. Haben unterwegs diese Typen gesehen, die hatten uns den Stinkefinger gezeigt oder so was, und da ist Keith ausgerastet.«
»Wer hatte ein Gewehr?«
»Ich nicht.«
»War da ein Gewehr?«
»Weiß nicht. Ich war besoffen. Er ist gefahren.« Simon war mürrisch. »Schätze, Papa wird stinksauer sein.«
Lily wollte gerade etwas erwidern, als noch ein Auto anhielt, und plötzlich waren überall Menschen, ein Abschleppwagen, ein Krankenwagen, die Polizei. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die Szenerie in grelles Licht. Lily schloss kurz die Augen, sehnte sich nach der friedlichen Stille des ersten fahlen Lichts zurück und wünschte, sie hätte den Vorfall nur geträumt.
Sie gab der Polizei ihren Namen und einen Kurzbericht und erklärte sich mit einer späteren Vernehmung einverstanden. Dann stieg sie wieder ins Auto. Der Tag hatte nun eine tiefe Narbe.
Der arme Dale. Arme Jungs. Sie hätte jetzt gerne mit Sami gesprochen. Doch zuallererst sollte sie wohl Dale aufsuchen. Er war so glücklich gewesen, dass Simon für sechs Monate nach Broome gezogen war. Er hatte seine Ausbildung zum Bautechniker abgeschlossen und sollte bei Dales neuestem Projekt – der Lieferung von Baumaterialien und Ausrüstung für den Bau einer kleinen Wohnsiedlung – praktische Erfahrungen sammeln. Dale hatte gehofft, Simon werde dabeibleiben und in seiner Firma arbeiten.
Simon war einige Jahre jünger als Sami, aber Dale und Lily hatten gehofft, dass die beiden sich gut verstehen würden. Nach ihrer ersten kurzen Begegnung in Sydney, einem gemeinsamen Abendessen, waren die beiden aber nicht mehr aneinander interessiert. Lily hatte es diplomatisch so erklärt, dass die beiden viel zu unterschiedlich in Alter und Interessen seien. Sie wollte Dale nicht erzählen, dass Sami sich energisch gegen alle Versuche wehrte, sie in irgendwelche trauten Familienbande einzubeziehen. Simon war ähnlich erleichtert, dass er nicht gezwungen mit Lily und Sami Konversation machen musste. Doch trotz aller familiären Distanz wollte sie in dieser Situation verhindern, dass die örtliche Polizei bei Dale erschien und ihn von der Beteiligung seines Sohnes an einem Autounfall in Kenntnis setzte.
An der langen Auffahrt, die hinter dem Strand zu Dales Haus führte, hielt sie an. Sie wühlte in ihrer Strandtasche und förderte ein altes T-Shirt mit einem Greenpeace-Slogan darauf zutage. Besser als nichts, dachte sie, zog es an und fuhr zum Haus.
Verschlafen öffnete Dale ihr die Tür. »Lily, was für eine nette Überraschung! Warum bist du nicht reingekommen und hast mich im Bett geweckt?« Dann bemerkte er ihre gebräunten Beine, das T-Shirt und die Perlenkette. »Schwimmen?«
»Dale, lass uns reingehen und einen Kaffee trinken. Ich muss dir etwas erzählen.«
»Um diese Uhrzeit? Was ist los?« Er hörte die
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