Die Perserinnen - Babylon 323
vom
Tod gezeichnet gewesen. Nun, wo er tatsächlich tot war, wirkte er eher, als ob
er schliefe. Sein Gesicht war friedvoll, wenn auch ausgezehrt von der
Krankheit. Ein entrückter Ausdruck lag darauf, wie so oft bei Toten, denen die
Götter einen gewaltlosen Tod vergönnt hatten. Auch in dem Saal war
vordergründig Ruhe eingekehrt, doch die Atmosphäre eisiger Feindseligkeit unter
den Frauen belastete Paruschjati fast mehr als der Ausbruch brutaler Gewalt,
den die Männer am Tag zuvor hier veranstaltet hatten.
Für Paruschjati war Alexander weniger ein Wesen aus Fleisch
und Blut gewesen, er war nur „der König“, der den geordneten Lauf der Welt und
damit auch ihre persönliche Sicherheit garantierte. Solange er lebte, war sie
sicher. Der Gedanke, dass er sterben könnte, hatte sie mit Schrecken erfüllt.
Während sie auf seinen Leichnam hinabsah, erinnerte sie sich an die Nacht, in
der ihr Vater gestorben war, an die Männerstimmen von draußen und die
rhythmischen Schläge gegen die Tür. Und dann an die Nacht, die sie mit ihrer
Mutter im Schatzhaus verbracht hatte. Das Geschrei, das näher kam und dann
leiser wurde. Sie konnte es immer noch hören, es schien wieder näher zu kommen,
immer näher und näher …
Als sie aus der relativen Kühle des Saals hinaus auf den
Innenhof trat, hatte sie das Gefühl, gegen eine Wand aus Hitze zu laufen. Bei
jedem Einatmen drang die Luft wie flüssiges Metall in ihre Lungen. Inzwischen
war es Mittag geworden, wo sich kein vernünftiger Mensch in Babylon mehr
freiwillig im Freien aufhielt. Als sie den anderen Frauen folgen wollte, trat
Eumenes auf sie zu und verbeugte sich.
„Königin Parysatis, es tut mir leid, dich in einer Situation
wie dieser behelligen zu müssen, aber ich benötige deine Hilfe. Würdest du mich
bitte begleiten?“
„Die Königin kommt gerade von der Totenbahre ihres Mannes“,
sagte Frataguna abweisend.
Eumenes verbeugte sich nochmals. „Dessen bin ich mir
bewusst. Wie ich schon sagte, ich bedaure die Störung außerordentlich, aber die
Angelegenheit ist dringend.“
„Meine Schwester ist erschöpft und fühlt sich nicht wohl.
Außerdem ist es schon Mittag!“
„Es würde nicht lange dauern.“
„Ich komme mit“, sagte Paruschjati. Sie fürchtete, dass das
ganze Hin und Her womöglich mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als Eumenes’
Anliegen überhaupt erforderte. Die Hitze war fast so unerträglich wie die
Übelkeit, und das Ziehen im Unterleib hatte sich inzwischen in einen stechenden
Schmerz verwandelt. Paruschjati hatte nur den Wunsch, in ihre Gemächer zurückzukehren
und sich hinzulegen.
Zu ihrer Überraschung führte Eumenes sie und ihr Gefolge
nicht nach Osten, wo seine Kanzlei lag, sondern nach Westen. Sie hoffte
inständig, dass er unterwegs nicht höfliche Konversation zu machen versuchte,
denn dazu war ihr zu übel. Eumenes schien ihre Erschöpfung zu spüren und
schwieg taktvoll. Unwillkürlich kehrten Paruschjatis Gedanken zu dem Eklat im
Neuen Palast zurück. Wieder sah sie Raukschanas Augen vor sich. Sie wusste,
warum die Baktrierin auf die ungeheuerliche Beschimpfung nichts entgegnet
hatte: Ihr Blick war der einer Frau gewesen, die sicher war, dass ihre Rache
sicher war.
Sie durchschritten das Tor, das vom Alten Palast zum Euphrat
und zu den Gärten führte, wandten sich dann aber nach Süden zum Apadana. Nur
flüchtig wunderte sich Paruschjati, was Eumenes in diesem abgelegenen Teil des
Palasts von ihr wollen konnte. Ihr Verstand war mit anderen Problemen
beschäftigt, während in ihr ein unbehagliches Gefühl aufstieg wie der Gestank
von Verwesung.
Noch größere Unruhe empfand sie, wenn sie an Atalante
dachte. Perdikkas’ Schwester hatte sich verhalten wie üblich, hochnäsig und
gelangweilt. Dennoch konnte Paruschjati sich nicht vorstellen, dass sie
Raukschanas Auftritt gebilligt hatte. Der Streit mit Statira mochte Atalante
kaltlassen, das Gezänk barbarischer Frauen, für die sie ohnehin nur Verachtung
empfand. Doch Raukschanas unpassende Aufmachung war eine Respektlosigkeit
gegenüber dem toten König. War Atalante das egal? Oder konnte es sein, dass sie
und Perdikkas die Kontrolle über die Baktrierin zu verlieren begannen?
„Es tut mir leid, dir das zumuten zu müssen“, wiederholte
Eumenes und blieb vor den schlanken Säulen des Apadana stehen.
Das Gebäude war von Schildträgern abgeriegelt worden, deren
Befehlshaber zu ihnen herüberkam. Es war Seleukos persönlich. „Danke, dass du
gekommen
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