Die Perserinnen - Babylon 323
nachtschlafender
Stunde im Neuen Palast erwischen lassen. Dagegen würde eine Gruppe von
Dienerinnen im Alten Palast auch nachts kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit zog Paruschjati das Kleid
einer Dienerin an und hüllte sich in einen dunklen Schleier. Durch den
Hinterausgang in der Küche schlüpfte sie hinaus in das Labyrinth der Gänge, die
sonst nur von der Dienerschaft benutzt wurden. Lediglich Ischna und zwei
Eunuchen begleiteten sie, Farnakia und Artaschura. Mannuja hatte zunächst
darauf bestanden mitzukommen, doch Paruschjati hatte der alten Frau das
ausgeredet und stattdessen das Kammermädchen mitgenommen. Zielstrebig, aber
ohne verdächtige Hast durchquerten sie den Neuen Palast und dann die Tunnel,
die durch die Stadtmauern zum Alten Palast führten. Die Wachen an den
Durchgängen würdigten sie wie erwartet keines Blickes. Unwillkürlich fühlte
sich Paruschjati an alte Zeiten erinnert, als Barsine mit ihr heimlich durch
den Palast geschlichen war.
Der östlichste Hof des Alten Palasts war der Öffentlichkeit
leichter zugänglich als die anderen Trakte. Hier konnten sich Unbefugte nachts
am ehesten bewegen, ohne aufzufallen. Kurz bevor der Gang, dem sie gefolgt
waren, auf den Hof hinausführte, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und
winkte sie stumm zu einem Eingang. Sie folgten einem weiteren Gang, bogen um
ein paar Ecken und landeten in einem stockfinsteren Raum.
„Ich habe doch gesagt, du sollst allein kommen“, flüsterte
die Gestalt.
In seinem schlechten Griechisch erwiderte Farnakia: „Glaubst
du im Ernst, die Königin trifft sich allein mit dir und einem Fremden?“
Langsam gewöhnten sich Paruschjatis Augen an die Dunkelheit.
Der Raum besaß keine Fenster und nur einen einzigen Zugang – wie geschaffen für
ein Treffen, bei dem keine heimlichen Mithörer erwünscht waren. Das schwache
Mondlicht, das durch die Tür hereinschien, fiel auf Regale an den Wänden. Sie
waren vollgestopft mit Stapeln kleiner Gegenstände. Paruschjati nahm einen
davon heraus – eine Tontafel; der Raum war ein Archiv. In der Mitte stand ein
Tisch mit einem Hocker, wahrscheinlich der Arbeitsplatz des Archivars.
„Wo bleibt dein Informant?“, zischte Farnakia.
Ephippos zischte zurück: „Ich weiß es nicht. Vielleicht habt
ihr ihn verschreckt.“
„Ein Skandal, eine Königin an einem Ort wie diesem warten zu
lassen!“
„Still!“, fauchte Paruschjati. „Mit eurem Gestreite
verscheucht ihr ihn.“
Schweigend warteten sie weiter. Dann, als sie kaum noch
damit rechneten, zeichnete sich plötzlich ein Schatten vor dem Eingang ab.
Ephippos schlüpfte hinaus und redete leise mit dem Ankömmling. Schließlich
kamen beide herein. Der Unbekannte war in einen dunklen Umhang gehüllt, der
auch seinen Kopf bedeckte. Das Gesicht war nicht zu erkennen.
„Mein Gewährsmann wird seinen Namen nicht nennen“, sagte
Ephippos. „Aber er war beim Gastmahl des Medios dabei, und er ist bereit
auszusagen, was er gesehen hat.“
Paruschjati gab den beiden Eunuchen ein Zeichen, und sie
bezogen Wache vor den Eingang. „Sprich. Was ist an diesem Abend geschehen?“
„Zunächst schien es ein ganz normaler Abend zu werden“,
begann der Fremde. „Es wurde viel getrunken und gelacht, wie üblich. Dann
brachte Jolaos, der königliche Mundschenk, einen großen Becher herein, einen
sogenannten Herakles-Becher. Das ist …“
„Ich weiß, was das ist. Fahr fort.“
„Der König und seine Gäste trinken einander also zu. Als die
Reihe an Proteas kommt, leert er den Becher in einem Zug, dann ist der König
dran.“ Das Griechisch des Mannes hatte einen verwaschenen Akzent, von dem
Paruschjati nicht wusste, ob er auf den makedonischen Dialekt oder auf einen
Sprachfehler zurückzuführen war. „Alexander bringt also einen Trinkspruch aus
und trinkt. Plötzlich stöhnt er auf, krümmt sich zusammen und hält sich die
Seite, als sei er von einem Pfeil getroffen worden. Sofort springen die Gäste
in seiner Nähe auf und beugten sich über ihn. Nach einiger Zeit helfen sie ihm
auf die Beine und führen ihn hinaus, doch sie müssen ihn fast tragen. Als sie
an mir vorüberkommen, ist sein Gesicht aschfahl und mit Schweiß bedeckt.“
„Das ist noch nicht alles“, sagte Ephippos. „Berichte der
Königin, was du mir erzählt hast.“
Der Unbekannte zögerte kurz, ehe er fortfuhr. „An dem Abend
herrschte eine seltsame Atmosphäre. Es war, als ob die Anwesenden auf etwas
warteten. Als
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