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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Überzeugung, dass der Sieg errungen war und die Krankheit ihre Stellungen räumte. In Wirklichkeit war schwer zu entscheiden, ob es sich um einen Sieg handelte. Man war nur genötigt festzustellen, dass die Krankheit zu gehen schien, wie sie gekommen war. Die Strategie, die man ihr entgegensetzte, hatte sich nicht geändert; gestern unwirksam, war sie heute offenbar erfolgreich. Man hatte nur den Eindruck, dass die Krankheit sich selbst erschöpft hatte oder vielleicht, dass sie sich zurückzog, nachdem sie alle ihre Ziele erreicht hatte. Ihre Rolle war gewissermaßen beendet.
    Dennoch hätte man meinen können, in der Stadt habe sich nichts geändert. Die Straßen waren tagsüber noch immer still und wurden abends von der gleichen Menschenmenge überschwemmt, nur dass sie jetzt überwiegend Regenmäntel und Schals trug. Die Kinos und Cafés machten noch immer gute Geschäfte. Aber wenn man genauer hinsah, konnte man feststellen, dass die Gesichter entspannter waren und manchmal lächelten. Und erst da wurde einem klar, dass bis dahin niemand auf der Straße gelächelt hatte. Tatsächlich hatte der undurchsichtige Schleier, der seit Monaten über der Stadt lag, einen Riss bekommen, und montags konnte jeder an den Rundfunknachrichten feststellen, dass der Riss sich vergrößerte und man endlich würde aufatmen können. Das war noch eine ganz negative Erleichterung, die nicht offen zum Ausdruck kam. Aber während man vorher nicht ohne eine gewisse Ungläubigkeit von der Abfahrt eines Zuges oder der Ankunft eines Schiffes erfahren hätte, oder dass die Autos wieder fahren dürften, hätte dagegen die Meldung dieser Ereignisse Mitte Januar keinerlei Überraschung ausgelöst. Das war sicher wenig. Aber dieser kleine Unterschied gab die ungeheuren Fortschritte wieder, die unsere Mitbürger auf dem Wege der Hoffnung gemacht hatten. Im Übrigen kann man sagen, dass die Herrschaft der Pest von dem Augenblick an beendet war, als für die Bevölkerung ein kleiner Funke Hoffnung möglich wurde.
    Gleichwohl reagierten unsere Mitbürger während des ganzen Januar widersprüchlich. Genau gesagt fielen sie abwechselnd in Zustände der Erregung und Depression. So mussten gerade dann neue Fluchtversuche verzeichnet werden, als die Statistik am günstigsten war. Das überraschte die Behörden sehr, und da die meisten Fluchten gelangen, wohl sogar die Wachposten. Aber eigentlich gehorchten die Leute, die zu der Zeit ausbrachen, natürlichen Gefühlen. Bei den einen hatte die Pest eine tiefe Skepsis einreißen lassen, die sie nicht mehr loswurden. Die Hoffnung hatte keine Wirkung mehr auf sie. Während also die Pestzeit vorüber war, lebten sie weiter nach ihren Regeln. Sie hinkten hinter den Ereignissen her. Bei den anderen dagegen – und sie gehörten insbesondere zu denen, die bis dahin von den geliebten Menschen getrennt gelebt hatten – hatte der nach dieser langen Zeit des Eingesperrtseins und der Niedergeschlagenheit aufkommende Wind der Hoffnung ein Fieber und eine Ungeduld entzündet, die ihnen jede Selbstbeherrschung raubten. Eine Art Panik überfiel sie bei dem Gedanken, dass sie so nah am Ziel vielleicht sterben könnten, dass sie den geliebten Menschen nicht wiedersehen würden und dass das lange Leiden nicht belohnt würde. Während sie trotz Gefangenschaft und Exil monatelang mit dumpfer Ausdauer wartend durchgehalten hatten, genügte der erste Hoffnungsschimmer, um zu zerstören, was Angst und Verzweiflung nicht hatten erschüttern können. Sie stürzten wie Irre vorwärts, um der Pest zuvorzukommen, und waren unfähig, bis zum letzten Augenblick mit ihr Schritt zu halten.
    Zur gleichen Zeit traten übrigens spontane Anzeichen von Optimismus in Erscheinung. So wurde ein spürbares Sinken der Preise verzeichnet. Vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus war diese Bewegung nicht zu erklären. Die Schwierigkeiten blieben gleich, an den Toren galten weiter die Quarantäneformalitäten, und die Versorgungslage hatte sich keineswegs gebessert. Es lag also ein rein moralisches Phänomen vor, so als habe das Nachlassen der Pest überall seine Rückwirkungen. Gleichzeitig erfasste der Optimismus auch jene, die vorher in Gruppen gelebt hatten und durch die Krankheit zur Trennung gezwungen worden waren. Die zwei Klöster der Stadt kamen allmählich wieder in Gang, und das Gemeinschaftsleben konnte wiederaufgenommen werden. Das Gleiche galt für die Militärs, die man wieder in den freigebliebenen Kasernen sammelte: Sie nahmen ihr

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