Die Pest (German Edition)
grünlich und sein Blick erloschen. Er starrte in das notdürftige Feuer, das Tarrou mit Kistenresten im Kamin anzündete. «Es geht schlecht», sagte er. Und aus seinen brennenden Lungen drang ein sonderbares Rasseln, das jedes seiner Worte begleitete. Rieux empfahl ihm zu schweigen und sagte, er werde wiederkommen. Ein seltsames Lächeln und mit ihm eine Art Zärtlichkeit legte sich über das Gesicht des Kranken. Er zwinkerte mühsam. «Wenn ich es überstehe, Hut ab, Herr Doktor!» Aber gleich darauf verfiel er in einen Zustand völliger Entkräftung.
Einige Stunden später fanden Rieux und Tarrou den Kranken halb aufgerichtet in seinem Bett, und mit Schrecken las Rieux auf seinem Gesicht das Fortschreiten des Leidens, das ihn verbrannte. Aber er schien geistig klarer zu sein und bat sie gleich mit eigentümlich hohler Stimme, ihm das Manuskript zu bringen, das in einer Schublade lag. Tarrou gab ihm die Blätter, die er an sich drückte, ohne sie anzusehen; dann hielt er sie dem Arzt hin und bedeutete ihm mit einer Geste, sie zu lesen. Es war ein kurzes Manuskript von etwa fünfzig Seiten. Der Arzt blätterte darin und stellte fest, dass auf all diesen Blättern nur ein und derselbe endlos wiederholte, umgeänderte, ausgeschmückte oder vereinfachte Satz stand. Unaufhörlich fügten sich der Monat Mai, die Amazone und die Alleen des Bois auf verschiedene Weisen gegen- und hintereinander. Das Werk enthielt auch manchmal übermäßig lange Erklärungen und Varianten. Aber unten auf die letzte Seite hatte eine akkurate Hand mit noch frischer Tinte nur geschrieben: «Meine liebste Jeanne, heute ist Weihnachten …» Darüber stand in sorgfältiger Schönschrift die letzte Version des Satzes: «Lesen Sie», sagte Grand. Und Rieux las.
«An einem schönen Maimorgen ritt eine schlanke Amazone auf einer prachtvollen Fuchsstute inmitten von Blüten durch die Alleen des Bois …»
«Ist es das?», sagte der Alte mit fiebriger Stimme.
Rieux sah ihn nicht an.
«Ach, ich weiß schon!», sagte Grand zappelnd. «Schön, schön ist nicht das treffende Wort.»
Rieux nahm die auf der Decke liegende Hand.
«Lassen Sie, Herr Doktor. Ich werde nicht die Zeit haben …»
Seine Brust hob sich mühsam, und auf einmal schrie er: «Verbrennen Sie es!»
Der Arzt zögerte, doch Grand wiederholte seinen Befehl mit einem so schrecklichen Unterton und einem solchen Leid in der Stimme, dass Rieux die Blätter in das fast erloschene Feuer warf. Das Zimmer wurde schlagartig hell, und eine kurze Hitze wärmte es auf. Als der Arzt zu dem Kranken zurückkam, hatte der sich umgedreht, und sein Gesicht berührte fast die Wand. Tarrou sah aus dem Fenster, als sei er an der Szene unbeteiligt. Nachdem Rieux das Serum gespritzt hatte, sagte er zu seinem Freund, Grand werde die Nacht nicht überleben, und Tarrou bot sich an zu bleiben. Der Arzt willigte ein.
Die ganze Nacht verfolgte ihn der Gedanke, Grand werde sterben. Aber am nächsten Morgen traf Rieux Grand im Bett sitzend an; er unterhielt sich mit Tarrou. Das Fieber war verschwunden. Übrig waren nur Anzeichen einer allgemeinen Erschöpfung.
«Ach, Herr Doktor», sagte der Angestellte, «ich habe einen Fehler gemacht. Aber ich werde neu anfangen. Ich erinnere mich an alles, Sie werden sehen.»
«Warten wir’s ab», sagte Rieux zu Tarrou.
Aber mittags hatte sich nichts geändert. Am Abend konnte Grand als gerettet betrachtet werden. Für Rieux war diese Auferstehung unbegreiflich.
Etwa zur gleichen Zeit jedoch wurde eine Kranke zu Rieux gebracht, deren Zustand er für hoffnungslos hielt und die er sofort bei ihrer Einlieferung isolieren ließ. Das junge Mädchen war in tiefes Delirium gefallen und wies alle Symptome der Lungenpest auf. Aber am nächsten Morgen war das Fieber gesunken. Der Arzt glaubte wieder, wie in Grands Fall, darin das morgendliche Nachlassen zu erkennen, das er aus Erfahrung als schlechtes Zeichen betrachten musste. Doch mittags war das Fieber nicht wieder gestiegen. Am Abend nahm es nur einige Zehntel Grad zu und am nächsten Morgen war es verschwunden. Das junge Mädchen lag zwar schwach in seinem Bett, konnte aber ungehindert atmen. Rieux sagte zu Tarrou, sie sei gegen jede Regel gerettet. Doch im Lauf der Woche kamen vier gleiche Fälle in Rieux’ Abteilung vor.
Am Ende derselben Woche begrüßte der alte Asthmatiker den Arzt und Tarrou mit allen Anzeichen großer Erregung.
«Es ist so weit», sagte er, «sie kommen wieder hervor.»
«Wer?»
«Na, die
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