Die Pest (German Edition)
findet sich eingestreut in lange Passagen über den Fall Cottard ein kurzer Bericht über den Alten mit den Katzen. Laut Tarrou hatte die Pest seiner Achtung für diese Person keinen Abbruch getan, die ihn nach der Epidemie genauso interessierte wie davor und für die er sich leider nicht mehr interessieren konnte, obwohl es an seinem, Tarrous, Wohlwollen nicht lag. Er hatte nämlich versucht, den Alten wiederzusehen. Ein paar Tage nach jenem Abend des 25. Januar hatte er sich an der Ecke der kleinen Straße aufgestellt. Die Katzen waren da, hatten sich zuverlässig eingestellt und wärmten sich in den Sonnenlachen. Aber die Fensterläden blieben zur gewohnten Stunde beharrlich geschlossen. An den folgenden Tagen sah Tarrou sie nie mehr offen. Daraus hatte er merkwürdigerweise geschlossen, dass der kleine Alte entweder verärgert oder tot sei, und falls verärgert, so weil er recht zu haben meinte und die Pest ihm Unrecht getan hatte, wenn er aber tot sei, müsse man sich in Bezug auf ihn wie auf den alten Asthmatiker fragen, ob er ein Heiliger gewesen sei. Tarrou glaubte es nicht, meinte aber, es gebe im Fall des Alten einen «Hinweis». «Vielleicht», vermerkte er in seinem Tagebuch, «kann man sich der Heiligkeit nur annähern. In dem Fall müsste man sich mit einem bescheidenen, barmherzigen Satanismus begnügen.»
Gleichfalls in die Anmerkungen zu Cottard eingestreut finden sich in den Aufzeichnungen auch zahlreiche, oft versprengte Beobachtungen, die zum Teil Grand betreffen, der auf dem Weg der Genesung war und seine Arbeit wiederaufgenommen hatte, als wäre nichts geschehen, und zum Teil sich auf Doktor Rieux’ Mutter beziehen. Die paar Gespräche, die das Zusammenwohnen zwischen ihr und Tarrou ermöglichte, Verhaltensweisen der alten Frau, ihr Lächeln, ihre Bemerkungen zur Pest sind genauestens aufgezeichnet. Tarrou hob insbesondere Madame Rieux’ bescheidene Zurückhaltung hervor, ihre Art, alles in einfachen Sätzen auszudrücken, ihre besondere Vorliebe für ein bestimmtes Fenster, das auf die stille Straße ging, an das sie sich abends setzte, etwas steif, mit ruhigen Händen und aufmerksamem Blick, bis die Dämmerung das Zimmer erfüllte, sie zu einem schwarzen Schatten in dem grauen, allmählich dunkler werdenden Licht machte, in dem sich die reglose Silhouette dann auflöste; die Angst, mit der sie sich von einem Zimmer ins andere bewegte; die Güte, die sie Tarrou gegenüber nie deutlich bewiesen hatte, deren Abglanz er aber in allem erkannte, was sie tat oder sagte; schließlich die Tatsache, dass sie seiner Ansicht nach alles wusste, ohne je nachzudenken, und dass sie bei so viel Schweigen und Schatten auf der Höhe jeder beliebigen Erkenntnis bleiben konnte, und sei es die der Pest. Hier übrigens zeigte Tarrous Schrift sonderbare Anzeichen von Haltlosigkeit. Die folgenden Zeilen waren schwer lesbar, und wie um einen weiteren Beweis für diese Haltlosigkeit zu liefern, waren die letzten Worte die ersten persönlichen: «Meine Mutter war genauso, ich habe an ihr die gleiche selbstlose Zurückhaltung geliebt, und mit ihr wollte ich immer zusammen sein. Vor acht Jahren ist sie, ich kann nicht sagen gestorben. Sie hat sich nur noch etwas mehr als sonst zurückgenommen, und als ich mich umgedreht habe, war sie nicht mehr da.»
Aber wir müssen zu Cottard kommen. Seit die statistischen Zahlen sanken, hatte er Rieux unter verschiedenen Vorwänden mehrmals besucht. Aber in Wirklichkeit wollte er von Rieux jedes Mal Prognosen zum Verlauf der Epidemie hören. «Glauben Sie, dass sie einfach so aufhören kann, mit einem Mal, ohne Vorwarnung?» In diesem Punkt war er skeptisch oder behauptete es zumindest. Aber die immer wieder gestellten Fragen schienen auf eine weniger feste Überzeugung hinzudeuten. Mitte Januar hatte Rieux ziemlich optimistisch geantwortet. Und jedes Mal hatten diese Antworten, statt Cottard zu freuen, ihm Reaktionen entlockt, die je nach dem Tag verschieden waren, aber alle von schlechter Laune bis zu Niedergeschlagenheit gingen. In der Folge sah sich der Arzt veranlasst, ihm zu sagen, dass es trotz der günstigen Anzeichen in der Statistik besser sei, noch kein Siegesgeschrei zu erheben.
«Anders gesagt, man weiß nichts; kann das von einem Tag auf den andern wieder losgehen?», hatte Cottard bemerkt.
«Ja, genauso, wie es möglich ist, dass die Tendenz zur Besserung sich beschleunigt.»
Diese für alle beunruhigende Ungewissheit hatte Cottard sichtlich erleichtert, und er
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