Die Pest (German Edition)
hatte in Tarrous Gegenwart Gespräche mit den Händlern seines Viertels angefangen, in denen er versuchte, Rieux’ Meinung zu verbreiten. Das war freilich nicht schwer. Nach dem Fieber der ersten Siege war nämlich in viele Köpfe ein Zweifel zurückgekehrt, der stärker sein sollte als die von der amtlichen Erklärung verursachte Erregung. Cottard beruhigte sich beim Anblick dieser Sorge. Wie so manches Mal verlor er aber auch den Mut. «Ja», sagte er zu Tarrou, «am Ende werden die Tore geöffnet. Und Sie werden sehen, alle werden mich fallenlassen!»
Bis zum 25. Januar fiel allen die Unbeständigkeit seines Charakters auf. Nachdem er so lange versucht hatte, sein Viertel und seine Bekannten für sich zu gewinnen, legte er sich nun tagelang mit ihnen an. Dann zog er sich, wenigstens scheinbar, von der Welt zurück und lebte von einem Tag auf den andern ganz ungesellig. Man sah ihn nicht mehr im Restaurant noch im Theater, noch in den von ihm so geliebten Cafés. Und doch schien er nicht in das maßvolle, anonyme Leben zurückzufinden, das er vor der Epidemie geführt hatte. Er lebte völlig zurückgezogen in seiner Wohnung und ließ sich aus einem nahen Restaurant das Essen bringen. Nur abends ging er verstohlen aus dem Haus, kaufte das Nötige ein und verließ die Geschäfte, um in einsamen Straßen Zuflucht zu nehmen. Wenn Tarrou ihm dann begegnete, konnte er nur Einsilbiges aus ihm herausholen. Dann wieder wurde Cottard ohne Übergang gesellig, sprach ausführlich über die Pest, bat jeden um seine Meinung und tauchte jeden Abend bereitwillig in den Menschenstrom ein.
Am Tag der amtlichen Erklärung verschwand Cottard völlig aus dem Verkehr. Zwei Tage später traf ihn Tarrou, wie er durch die Straßen irrte. Cottard bat darum, dass Tarrou ihn in die Vorstadt zurückbegleite. Tarrou, der sich von seinem Tagewerk besonders erschöpft fühlte, zögerte. Aber der andere bestand darauf. Er wirkte sehr erregt, gestikulierte zerfahren und sprach schnell und laut. Er fragte seinen Begleiter, ob er glaube, dass die Erklärung des Präfekten der Pest wirklich ein Ende setzte. Natürlich meinte Tarrou, dass eine amtliche Erklärung an sich nicht ausreiche, um eine Seuche zu beenden, dass man aber vernünftigerweise annehmen müsse, die Epidemie werde aufhören, wenn nichts dazwischenkomme.
«Ja», sagte Cottard, «wenn nichts dazwischenkommt. Es kommt aber immer was dazwischen.»
Tarrou wies ihn darauf hin, dass die Präfektur mit der Festsetzung einer zweiwöchigen Frist bis zum Öffnen der Tore Unvorhergesehenes ja gewissermaßen vorgesehen habe.
«Und sie hat gut daran getan», sagte Cottard, immer noch düster und erregt, «weil, so, wie die Dinge laufen, könnte sie sich umsonst angestrengt haben.»
Tarrou hielt das für möglich, aber er meinte, es sei doch besser, sich auf die baldige Öffnung der Tore und die Rückkehr zu einem normalen Leben einzustellen.
«Zugegeben», sagte Cottard, «zugegeben, aber was nennen Sie Rückkehr zu einem normalen Leben?»
«Neue Filme im Kino», sagte Tarrou lächelnd.
Aber Cottard lächelte nicht. Er wollte wissen, ob man annehmen könne, dass die Pest nichts in der Stadt ändern und alles wie vorher weitergehen würde, das heißt, als sei nichts geschehen. Tarrou glaubte, dass die Pest die Stadt verändern werde und nicht verändern werde, dass es natürlich der größte Wunsch unserer Mitbürger sei und sein werde, so zu tun, als habe sich nichts geändert, und dass sich von daher in gewissem Sinn nichts geändert habe, dass man in einem anderen Sinn aber nicht alles vergessen könne, selbst mit dem nötigen Willen nicht, und dass die Pest zumindest in den Herzen Spuren hinterlassen werde. Der kleine Rentner erklärte rundheraus, er interessiere sich nicht für das Herz, das Herz sei sogar seine geringste Sorge. Was ihn interessiere, sei, ob die Organisation als solche nicht umgestaltet werde, ob zum Beispiel alle Dienststellen wie in der Vergangenheit arbeiten würden. Und Tarrou musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte. Seiner Auffassung nach war anzunehmen, dass all jene Dienststellen, die während der Epidemie durcheinandergeraten waren, einige Mühe haben würden, wieder in Gang zu kommen. Man könne auch vermuten, dass sich Unmengen neuer Probleme stellen würden, die zumindest eine Neuorganisation der alten Dienste erforderlich mache.
«Aha!», sagte Cottard. «Das ist tatsächlich möglich, alle werden neu anfangen müssen.»
Die beiden Fußgänger waren
Weitere Kostenlose Bücher